Das Maedchen mit den Schmetterlingen
wenig mit ihrem Leiden, Autismus, aus und wusste auch, dass ihr jüngerer Bruder deutlich stärker davon betroffen war, aber er konnte nicht behaupten, dass er
verstand, was in Tess wirklich vorging. Alle Kinder, die bei ihm im Büro landeten, waren verhaltensauffällig, die meisten aufgrund einer psychischen Störung, dennoch hatte er das Gefühl, dass Tess eigentlich nicht hierhergehört hätte. Das stimmte den erschöpften Psychiater traurig, und er wünschte, er hätte im Lauf der Jahre mehr für sie tun können.
Zu seinem Bedauern hatten sich Tess’ Geschwister nie hier sehen lassen, weshalb er sich an den Arzt ihres Heimatortes gewandt hatte. Von ihm erfuhr er, dass zwar Tess’ älterer Bruder Alkoholiker sei, ihre Schwester aber eine tüchtige Frau, die sich sicherlich gut um Tess kümmern würde. Da Cosgrove auch persönlich mit ihren Geschwistern sprechen wollte, rief er sie an. Kate Byrnes leise Stimme ließ eher auf eine leichte Depression schließen als auf die Stärke, von der Dr. Doyle gesprochen hatte, was Cosgrove beunruhigte. Tess stand ein bedeutender Schritt, bevor und er musste sicher sein, dass alles, was er veranlasste, zu ihrem Besten war. Cosgrove beschloss, die Gemeindeschwester anzurufen und sie zu bitten, sich um Tess zu kümmern. So konnte er sie ein wenig im Blick behalten, bis er wirklich überzeugt war, dass es ihr gut ging.
Als er mit Tess über ihren bevorstehenden Abschied gesprochen hatte, hatte sie ihn wortlos angestarrt und an ihrem Pullover gezupft, während sie die Neuigkeit verarbeitete. Tess war zu einer schönen jungen Frau herangewachsen, ihr porzellanfarbener Teint war umrahmt von kräftigem, schwarzem Haar. Ihr unbewegtes Gesicht wirkte fast wie das einer Puppe.
»Freust du dich, Tess?«, hatte er lächelnd gefragt. Das Mädchen hatte keine Miene verzogen, wie üblich starr an ihm vorbeigeblickt und mit einem kurzen Nicken sein Büro verlassen.
Cosgrove stemmte sich langsam aus seinem Sessel. Er blieb in Gedanken versunken stehen und umklammerte Tess’ Krankenakte, bis ihn das Schrillen der Schulglocke aufschreckte.
Er steckte die Akte langsam in den großen, metallenen Aktenschrank. Behutsam schloss er die Schublade, griff nach den Akten der beiden Kinder, die heute neu eingetroffen waren, und bereitete sich auf seine Visite vor.
Dermot Lynch war ein ernsthafter Mann. Im Alter von dreißig Jahren stand er nach einer Auseinandersetzung mit seinem starrsinnigen, dominanten Vater von einem Tag auf den anderen nicht nur ohne Land, sondern auch ohne Dach über dem Kopf da. Dan Lynch war längst im Ruhestand, trotzdem hatte er sich ständig eingemischt und seinem ältesten Sohn vorgeschrieben, wie er den Hof zu führen hatte. Bis Dermot schließlich die Nase voll hatte.
Dermot hatte mit dem Gedanken gespielt, nach London oder New York, ja, vielleicht sogar nach Sydney zu gehen, wo überall Verwandte von ihm lebten. Aber er wusste auch, dass er nicht für das Baugewerbe geschaffen war, und für ein Leben als Fabrikarbeiter erst recht nicht. Stattdessen war er hierher nach Wicklow gekommen, wo er im Pub seiner Tante und seines Onkels arbeitete und außerdem halbtags als Knecht auf dem Hof der Byrnes. Der Hof würde ihm zwar nie gehören, aber die Arbeit machte ihm Spaß. Wie zu Hause in Galway galt es, das Vieh zu versorgen. Das Klima im Osten war milder, und es regnete deutlich weniger. Er fühlte sich wohl hier, arbeitete hart und ging seinen Arbeitgebern aus dem Weg, obwohl er durchaus nichts gegen sie hatte. Der Bruder, Seán, hatte offenbar ein Alkoholproblem und packte nur selten mit an. Die Schwester, Kate, sah nicht schlecht aus, machte den Haushalt und kümmerte sich um ihren kleinen Bruder Ben, der stumm war wie ein Fisch, sich ständig zu irgendwelchen unhörbaren Klängen wiegte und vor sich hin summte. Die Stille im Haus war mit Händen zu greifen, und Dermot hielt
sich dort so wenig wie möglich auf. Er aß, was ihm vorgesetzt wurde, und versuchte, dem starren Blick des Jungen auszuweichen, bevor er sich hastig wieder an seine Arbeit machte. Im Grunde genommen störte ihn die merkwürdige Atmosphäre aber nicht. Niemand stellte ihm Fragen, was ihm nur recht war. Das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, dass im Dorf darüber getratscht wurde, dass er den eigenen Hof an seinen jüngeren Bruder verloren hatte. Man schrieb zwar das Jahr 1981, aber in Irland gingen die Uhren langsamer, und er hatte keine Lust, Thema des Dorfklatsches in dem kleinen Ort zu
Weitere Kostenlose Bücher