Das Maedchen mit den Schmetterlingen
Kapitel 1
1981
E igentlich hatte sich Tess Byrne auf eine schlaflose Nacht eingestellt, doch dann wurde sie vom Geräusch der Putzfrauen geweckt, die den langen Korridor vor ihrer Zimmertür wischten. Es war ein beruhigendes Geräusch, an das sie sich während ihrer zehn Jahre in dieser Anstalt gewöhnt hatte. Sie stellte ihre nackten Füße auf die kalten Fliesen und ging auf Zehenspitzen zum Fenster hinüber, um in den hellen, frostkalten Februarmorgen hinauszublicken. Tess genoss ihr morgendliches Ritual, freute sich, immer die gleichen Dinge zu sehen: die Autos auf der Straße, die Fahrradfahrer, die auf dem Weg zur Arbeit die Abkürzung über das Anstaltsgelände nahmen, die Krankenschwestern, die nach und nach eintrafen. Doch dieser Morgen war anders. Dieser Morgen war der letzte, an dem sie das alles beobachten würde, es war der letzte Tag, den sie hier verbringen würde. Heute war der Tag ihrer Entlassung.
Langsam und systematisch zog Tess sich an, wobei sie gewissenhaft jedes Kleidungsstück einzeln auseinanderfaltete. Sie holte den kleinen Koffer unter ihrem Bett hervor und packte schweigend ihre Sachen. Viel gab es nicht zu verstauen, hauptsächlich ihre Zeichnungen und die Buntstifte, zusammen mit ein bisschen Wäsche. Als sie fertig war, setzte sie sich aufs Bett und ließ den Blick durch das spärlich eingerichtete
Zimmer schweifen. Außer ihrem Bett und dem Schrank gab es nur noch eine alte Holzkommode, die nach Mottenkugeln roch. Die kleine Kammer war weiß getüncht, was den stillen Raum kälter wirken ließ, als er eigentlich war. Abgesehen von einigen Zeichnungen, die sie hierlassen wollte, hing an den Wänden nur eine runde weiße Plastikuhr und ein großes hölzernes Kruzifix, an das sie sich erst nach geraumer Zeit gewöhnt hatte. Was ihr an ihrem Zimmer am besten gefiel, war das große Fenster mit den Fensterläden und der breiten Fensterbank, auf der sie oft gesessen und gemalt hatte.
Tess setzte sich, erst in einer guten halben Stunde würde man sie zum Frühstück rufen. Sie holte ein kleines Notizbuch aus ihrem Koffer und schlug die erste Seite auf. Unter der in Schönschrift verfassten Überschrift »Entschuldigen« war dort in großen, roten Buchstaben eine Liste zu lesen.
ENTSCHULDIGEN
Seán
Kate
Ben
Dr. Cosgrove hatte sie oft gefragt, was diese Liste zu bedeuten hatte, aber sie hatte es ihm nicht verraten. Das war ihr Geheimnis, und Geheimnisse darf man nicht weitersagen. Sie legte das Notizbuch in den Koffer zurück und holte einmal tief und zufrieden Luft. Heute begann ein neues Leben. Sie kehrte nach Hause zurück und hatte dort einiges zu erledigen.
Dr. Martin Cosgrove ließ seinen massigen Körper in den schwarzen Ledersessel sinken und blickte aus seinem stickigen
Büro auf den Innenhof der Anstalt hinunter. Er beugte sich vor, wobei seine blonden Haare über die dunkel gerahmte Brille fielen, und beobachtete die Kinder, die unter der Aufsicht zweier Pfleger draußen im Hof spielten. Er seufzte, als er an die Verantwortung dachte, die seine Arbeit mit sich brachte, gab es doch keinerlei Gewissheit, ob er irgendeinem der vielen hundert verhaltensgestörter Kinder, die diese Anstalt durchlaufen hatten, wirklich hatte helfen können.
Das galt auch für Tess Byrne. Bei der Durchsicht ihrer Akte konnte er kaum glauben, dass sie einem anderen Menschen etwas angetan haben sollte. In den ersten Jahren hatte es ein paar kleinere Zwischenfälle gegeben, sodass man ihr schließlich ein Einzelzimmer zugewiesen hatte. Als sich ihr Verhalten dann gebessert hatte, wollte keines der anderen Kinder mit ihr zusammenwohnen. Sie sagten, Tess würde sich seltsam benehmen und sie die ganze Zeit anstarren. Über Jahre hatte er versucht, mit der stummen Einzelgängerin ins Gespräch zu kommen, und das durchaus mit einem gewissen Erfolg. Und doch konnte er die wenigen Male, an denen sie in den letzten zehn Jahren ein paar zusammenhängende Sätze gesprochen hatte, fast an einer Hand abzählen. Cosgrove seufzte laut. Tess würde heute von ihren Angehörigen, die in einem entlegenen Teil von County Wicklow einen Hof bewirtschafteten, abgeholt werden, und es sah ganz danach aus, als würde sie den Rest ihres Lebens ohne Kontakt zur Außenwelt verbringen. Aber ihm waren die Hände gebunden.
Sie war einundzwanzig Jahre alt und zeigte, abgesehen von ihrem apathischen Wesen und den gelegentlichen Gefühlsausbrüchen, keinerlei Anzeichen für eine Geisteskrankheit. Er kannte sich ein
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