Das Mädchen: Roman (German Edition)
einen Schwarm Wespen verscheuchen, streckt ungläubig die Zunge heraus und japst nach Luft. Die Mutter brüllt vor Lachen, und sie stimmt ein, obwohl sie ahnt, dass sie die Nächste sein wird. Nach einer Weile verstummt ihr Bruder, bricht in Tränen aus und verbirgt das Gesicht hinter den vorgehaltenen Händen.
Sie meint zu wissen, was sie erwartet, als sie in die Schote beißt, doch auf diesen Schmerz ist sie nicht vorbereitet. Sie führt den gleichen Tanz wie ihr Bruder auf, und noch lange danach fühlt sich ihre Kehle wund an.
Sie hat das Gefühl, die Stunden wären einzementiert, die Zeiger der Küchenuhr bewegen sich kaum vom Fleck. Die Mutter trinkt, raucht verdrossen eine Zigarette nach der anderen, gibt scharfe Seufzer von sich, ihre Brauen liegen wie zwei schattige Balken über ihrem Gesicht. Meine Augen tun weh, sagt sie mit träger Stimme.
Die Tochter spürt den Blick der Mutter, der durch sie hindurchgleitet, als wäre sie keine Person, sondern ein weit entfernter Ort. Alex steht bewegungslos da, stumm wie ein Fisch, eine Schollenlarve, denkt sie, die noch unfertig in aufrechter Haltung schwimmt, und die Mutter ist ein Zitterwels, der, wenn man ihn berührt, elektrische Schläge austeilt. Sie befürchtet, dass die Stimmung kippt, deshalb schlägt sie ein anderes Spiel vor. Sie erklärt es der Mutter leise, dann schreiben sie gemeinsam einen Einkaufszettel für Alex, auf dem die irrwitzigsten Dinge stehen. Wenn er im Konsum den Zettel vorzeigt, wird die Verkäuferin auf der Wunschliste Sachen lesen, die es nie oder sehr selten zu kaufen gibt: Aal, Ölsardinen, Erdbeeren, Pfirsiche, Gurken, Tomaten.
Inzwischen klingt die Stimme der Mutter verschwommen. Ihre Tochter wartet darauf, dass sie zu lallen beginnt, dann bringt sie die betrunkene Frau ins Bett.
Am nächsten Tag geht die Mutter früh durch die Wohnung, reißt alle Fenster auf und hat eine Menge Aufgaben für die Geschwister parat: Küchenschränke ausräumen, wieder einräumen, den Boden kehren, wischen, die Treppen bohnern. Überall sieht sie Staub, sie selbst sitzt rauchend in der Küche und dirigiert ihre Kinder mit zackigen Sprüchen. Ihre Tochter kennt die Ausweglosigkeit eines solchen Tages, sie wird unweigerlich etwas falsch machen und dafür bestraft werden. Während Alex ängstlich und beflissen versucht, seine Aufgaben zu erfüllen, fordert sie die Mutter heraus. Sie verlangsamt ihre Bewegungen, wischt im Zeitlupentempo über die Schränke, dreht ihren Kopf zum Fenster, starrt scheinbar gleichmütig in die Krone der Kastanie draußen auf dem Hof; und während die Mutter auf sie einschlägt, muss sie an den mächtigen Goliathkäfer denken, sie stellt sich vor, sie hätte seine Flügel und könnte weit weg fliegen. Doch ihr Ziel hat sie erst erreicht, als die Mutter endlich brüllt: Verschwinde aus meiner Wohnung und lass dich nie wieder blicken.
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8
Draußen brennt die Sonne gleißend hell. Sie trägt immer noch die blau geblümte Dederonschürze. Sie überlegt, was sie tun könnte. Ihr Büchereiausweis ist in der Wohnung, auch das Schwimmbad kommt ohne Badeanzug nicht in Frage, bei den Ferienspielen ist sie nicht angemeldet. Sie schlendert ziellos durch die Straßen, und als sie den Durst nicht mehr aushält, geht sie in den Konsum, steckt sich blitzschnell die Schürzentaschen voll mit Süßigkeiten, schnappt sich eine Flasche grüner Waldmeisterlimonade und verlässt rasch den Laden. Die Verkäuferin folgt ihr auf die Straße und ruft ihr laut hinterher – doch da rennt sie schon. Sie ist beim Langstreckenlauf die Schnellste in der Klasse, wenn die anderen nicht mehr können und nach Luft schnappen, fängt sie gerade erst richtig an. Ihre Beine bewegen sich wie von selbst, sie läuft über die Eisenbahnbrücke, einen schmalen Lehmweg entlang, der durch verkümmertes Gehölz in eine Kleingartenanlage führt. Dort bleibt sie stehen und schaut sich um. Sie kann nirgendwo einen Menschen entdecken, öffnet den Riegel einer kleinen hölzernen Tür und betritt einen Garten. Sie pflückt einen noch grünen Augustapfel und verspeist ihn samt dem Kerngehäuse. Auf einem anderen Grundstück plündert sie die Stachelbeerbüsche und entdeckt sogar ein Gewächshaus, in dem es allerdings nichts Essbares gibt. Sie findet ein Fahrrad, ein schweres Herrenrad, und als sie versucht, darauf zu fahren, erreicht sie kaum die Pedale. Sie wirft das Fahrrad in einen Graben, schlendert die Wege der Anlage entlang und bleibt an einer alten
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