Das Mädchen: Roman (German Edition)
täuscht ein Stolpern vor, doch niemand beachtet sie. Dann sieht sie in der Ferne zwei Polizisten und entfernt sich unauffällig. In der Bahnhofstoilette wäscht sie sich das Gesicht, trinkt aus ihren hohlen Händen und beschließt, in den Zoo zu gehen.
Sie zwängt sich durch einen Riss im Maschendraht, kriecht an einem Abfallhaufen vorbei, der einen beißenden Geruch verströmt, überall wuchert hohes Gras und Unkraut. Das Nilpferd erinnert sie an die Mutter von Elvira, der traurig in der Ecke hockende Makake ähnelt ihrem Bruder, der Panther ihrem Vater, Armin ist der junge Hirsch, nur für ihre Mutter findet sie kein passendes Tier, sie selbst fühlt sich dem Kolkraben verwandt.
Ein Löwe dreht seinen Kopf in ihre Richtung, starrt sie durch die Gitterstäbe an, und sie starrt zurück, versinkt im Glanz seiner Pupillen; sie möchte ihn mit ihrem Blick bezwingen, möchte so stark sein, dass er ihr folgt, zu ihrer Mutter, in die Schule, zu Armin, doch er gähnt nur und zeigt ihr seine großen, spitzen Zähne. Sie wünscht sich, ihn aus der Ruhe zu bringen, steigt über das Geländer, nimmt einen Stock, tritt nahe an den Käfig. Sie verspürt eine ungestüme Lust, das Tier herauszufordern, und fährt mit dem Stock über die Gitterstäbe, gibt knurrende, fauchende Geräusche von sich. Sie rennt um den Käfig, bleckt die Zähne, versucht den Löwen zu reizen, der aber kneift nur die Augen zusammen und wendet sich ab. Doch sie kann nicht aufhören, sie jagt weiter um den Käfig, wie getrieben schlagen ihre Sandalen auf den trockenen Sand. Erst als eine Gruppe von Kindern sich dem Raubtierkäfig nähert, bleibt sie stehen, spürt ihr Herz bis zum Hals und weiß nicht, wohin mit sich.
Sie sucht ihr Nachtquartier diesmal in einem Mietshaus und versteckt sich auf dem Dachboden. Die Hitze knistert noch im Gebälk, ihr Magen knurrt, sie stellt sich eine große Scheibe Brot vor, mit Leberwurst und Senf bestrichen. Noch ist es nicht richtig dunkel, überall sind Spinnweben, sie schleicht über die angeschimmelten Bodenbretter voller toter Insekten und setzt sich im Treppenhaus auf die oberste Stufe. Die Lichtuhr klickt, Radiogedudel und Kinderstimmen dringen zu ihr; sie versucht die Geräusche auszublenden, wenn jemand eine halbe Treppe tiefer auf die Toilette geht. Nach und nach wird es stiller, nur aus dem Erdgeschoss klingen die Misstöne einer Blockflöte. Sie geht leise die Stufen zum nächsten Stockwerk herunter und bettet ihren Kopf auf den Fußabtreter vor einer Wohnungstür. Lange kann sie nicht einschlafen; wenn sie sich umdreht, treffen ihre Hüftknochen auf den harten Holzboden, und das Pochen in ihrem Zahn wird schmerzhafter.
Getuschel dringt in ihr Bewusstsein, und als sie die Augen aufschlägt, weiß sie zuerst nicht, wo sie ist. Sie sieht Füße vor sich, nackte Kinderfüße und Füße von jemand Größerem. Mit einem Ruck richtet sie sich auf, zwei kleine Rotznasen an den Händen ihrer Mutter betrachten sie, als wäre sie eine Außerirdische. Ein Mann geht an ihnen vorbei, läuft schnell die Treppen herunter. Er wird die Polizei holen, denkt sie, doch es ist ihr egal, ihre Knie sind weich vor Hunger. In der Küche erzählt sie ihre Geschichte von der bösen Mutter. Diese Geschichte macht Eindruck, sie bekommt eine Portion Mitleid und ein richtiges Frühstück.
Ein Polizist begleitet sie nach Hause. Während sie versucht, seinen großen Schritten zu folgen, bringt er ein Argument nach dem anderen vor, warum es sich nicht lohne, auszureißen. Sie wäre doch ein vernünftiges Kind, sagt er, jedenfalls sei das sein Eindruck.
Alles Lügen, sagt die Mutter, als er ihre Geschichte erzählt. Die faule Tochter, die stiehlt und den Bruder unters Auto getrieben hat, das ist ihre Version, die sie mit einem klagenden Ton unterstreicht.
Sie weiß nicht, wem der Polizist glaubt, sie betrachtet nur die hervortretende Ader an der Schläfe der Mutter. Als er sich verabschiedet, ermahnt er sowohl Mutter wie Tochter, sich zu vertragen.
Sie geht in ihr Zimmer und erwartet ihre Strafe. Nach einer Weile kommt Alex. Sie schläft, sagt er und reißt seinen Mund weit auf; er sieht sie an, reißt seinen Mund wieder auf.
Was ist los mit dir?, sagt sie.
Er blinzelt nervös, als hätte er Sandkörner im Auge.
Was ist denn?, wiederholt sie.
Alex zuckt mit den Achseln, knabbert an seinen Fingernägeln und starrt aus dem Fenster.
Bist du sauer, weil ich abgehauen bin?
Sein Mund steht weit offen.
Das nervt, sagt sie und äfft ihn
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