Das Mädchen: Roman (German Edition)
Wasserpumpe stehen. Sie betätigt den Hebel und trinkt, lässt sich den kalten Wasserstrahl übers Gesicht laufen. Als sie eine Gartentür öffnen will, taucht wie aus dem Nichts ein Hund auf, ein riesiges, dunkles Tier, das mit einem Satz an den Zaun springt. Die Augen des Hundes sind mit einem weißlichen Film überzogen, haben keine Pupillen, sein Knurren kommt tief aus der Kehle. Sie lässt sich von ihm beschnuppern und atmet gleichzeitig seinen Duft ein, nach Tier, Sommer, Unrat. Sie fürchtet sich nicht vor ihm, doch lässt sie ihn nicht aus den Augen, als sie über den Zaun klettert. Der Garten ist groß und verwahrlost, im hinteren Teil befindet sich eine Laube, vor der Hundehütte steht ein von Fliegen umschwirrter Plastiknapf, daneben eine halb volle Wasserschüssel. Sie schleicht durchs Gestrüpp, streift einen Brennnesselbusch und schreit kurz auf. Sie verharrt regungslos, doch alles bleibt still. Der Geruch nach verbranntem Holz liegt in der Luft, die Abendsonne wärmt ihren Nacken. Lautlos ist ihr der Hund gefolgt, sein langer buschiger Schwanz wedelt hin und her, klopft auf den Boden. Sie schließt die Augen, und es kommt ihr so vor, als würde alles ineinanderfließen, die im Licht flirrenden Staubteilchen, das Gesumm der Bienen, der Garten, der gar nicht wie ein Garten aussieht, sondern wie ein funkelnder Teppich, der sich gleich in die Luft erheben wird. Das Fenster der Laube ist verschlossen, doch die Tür lässt sich leicht öffnen. Ein Streifen Sonnenlicht fällt in den Raum, der Rest bleibt dunkel. Sie kann ein zerschlissenes Sofa erkennen, einen Tisch, zwei klapprige Stühle sind aneinandergelehnt, als wollten sie sich stützen. Sie spürt ihren hungrigen Magen und einen leicht schmerzenden Zahn. Als sie die Süßigkeiten aus ihrer Schürzentasche isst, bemüht sie sich, auf der schmerzfreien Seite zu kauen.
Sie legt sich auf das Sofa, der Hund springt zu ihr hoch, streckt wie selbstverständlich seine Vorderläufe aus und leckt ihr Gesicht ab. Während der Raum in Dunkelheit versinkt, schmiegt sie sich an das große Tier, unter ihrer Hand kann sie sein Herz spüren.
Als sie im Morgengrauen aus den Traumrändern auftaucht, ist sie zuerst verwundert über das haarige Geschöpf neben sich. Doch schnell erinnert sie ihr leerer Magen daran, wo sie sich befindet, auch ihr Zahn beginnt sacht zu klopfen.
Ich hab Hunger, sagt sie zu dem Hund, Hunger und Durst. Sie verabschiedet sich von ihm und klettert über den Zaun. Während sie durch die Kleingartenanlage läuft, kann sie am Horizont einen Blitz erkennen, sie zählt acht Sekunden, ehe das Donnergrollen folgt, und sie weiß, dass das Gewitter noch weit entfernt ist. Sie bleibt bei der Wasserpumpe stehen und trinkt. Dann läuft sie weiter, im leichten Dauerlauf, hält erst vor ihrem Haus wieder inne.
Sie stellt sich den schlafenden Alex hinter dem Fenster im dritten Stock vor, sie möchte nicht mit ihm tauschen, sie möchte überhaupt mit niemandem tauschen, obwohl sie sich so viele Dinge wünscht, die die anderen besitzen. Sie betrachtet die Auslage im Bäckerladen, dann schleicht sie in den Hof, wo die Kuchenbleche zum Abkühlen stehen. Eierschecke ist ihr Lieblingskuchen. Sie horcht auf die Geräusche, die von unten aus der Backstube dringen, und während sie die noch warme Eierschecke herunterschlingt, nimmt sie schon das nächste Stück vom Blech. Danach lässt sie sich durch die Straßen treiben. Als die Geschäfte öffnen, streift sie eine zeitlang im Kaufhaus umher. Später zieht sie durch die Häuser, klingelt an Wohnungstüren und fragt nach Flaschen, Gläsern oder Altpapier. Ihre Beute schleppt sie zum Altstoffhandel. Im Laden riecht es nach Alkohol und vergorenen Obstsäften. Ihr Zeitungsbündel wiegt knapp vier Kilo, zusammen mit den Flaschen kassiert sie zwei Mark, und als Beigabe bekommt sie Abziehbilder geschenkt. Mit der Straßenbahn fährt sie zum Bahnhof und geht dort ins Zeitkino. In der Wochenschau gibt es eine Reportage über die NVA , die sie dreimal über sich ergehen lässt, nur um genauso oft Laurel und Hardy sehen zu können, Dick und Doof, die zwei stellen sich dumm und dümmer und kommen damit doch ganz gut über die Runden. Als sie das Kino verlässt, erscheinen ihr die Menschen um sie herum ganz fremd. Sie würde sich gern Laurel und Hardy als Dritte im Bund anschließen und überlegt, welchen verrückten Quatsch sie gemeinsam anstellen könnten. Vor einem Schaufenster bleibt sie stehen und bläst die Backen auf,
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