Das Mädchen: Roman (German Edition)
nach, schnappt nach Luft wie ein Fisch. Sie überlegt, ob ihr Bruder schon immer so ein Grimassenschneider war, und betrachtet ihn genauer. Er reibt sich mit der flachen Hand über die Beine, seine Locken hängen ihm ins Gesicht, überhaupt sieht er komisch aus mit seinem blöden Buckel.
He, sagt sie, dein Auge zuckt. Sie starrt fasziniert auf das linke Auge ihres Bruders, das von mehreren elektrischen Schlägen getroffen zu werden scheint.
Lass mich in Ruhe, sagt Alex, dreht sich weg, steckt seinen Schnorchel in den Mund.
Sie empfindet kein Mitleid mit ihm, dafür ist sie zu sehr auf dem Sprung, und doch möchte sie nicht, dass ihr Bruder so ist, wie er ist. Er leistet niemandem Widerstand.
Am Nachmittag wird ihrem Stubenarrest ein weiteres Jahr hinzugefügt. Sie lächelt vor Erleichterung und spürt, dass sich hinter dieser Strafe eine Schwäche verbirgt.
Die Mutter sitzt im Bett, hat ihre Augen mit der Hand abgedeckt, als blende sie das Sonnenlicht, dabei sind die Gardinen zugezogen.
Mir geht’s schlecht, sagt die Mutter, massier mich. Ein Speichelfaden zieht sich von ihrer Unterlippe langsam auf den riesigen Bauch.
Sie kann sich nicht vorstellen, dass da drinnen ein Kind sein soll. Während sie vorsichtig die Kopfhaut massiert, beginnt jäh und grell ihr Zahn zu hämmern, und diesmal ist der Schmerz kaum zu ertragen. Sie atmet geräuschvoll zwischen den Zähnen aus. Der Schmerz erfasst den ganzen Kopf und nimmt ihr den Atem. Sie schnappt nach Luft, heult los und kann nichts dagegen tun, sie steht einfach nur da, umklammert ihr Gesicht mit beiden Händen und brüllt, mein Zahn, mein Zahn; nur flüchtig nimmt sie wahr, wie die Mutter das Zimmer verlässt.
Sie ist die Einzige in der Klasse, die sich den Kontrolluntersuchungen entzieht, immer, wenn der Zahnarzt in die Schule kommt, schafft sie es zu verschwinden. Die Vorstellung der Torturen, die er ihr zufügen könnte, ist für sie viel schlimmer als der Zahnschmerz. Nein, sie wird niemals zum Zahnarzt gehen, auch dann nicht, wenn sie nur noch verfaulte Zahnstümpfe im Mund hat.
Ihr Bruder steht plötzlich vor ihr, mit einer Schnapsflasche in der Hand. Er hat den Auftrag, sie in den Keller zu bringen. Dort soll sie den Schnaps trinken, dann würde der Schmerz verschwinden.
Der erste Schluck schmeckt scheußlich, wie Medizin, doch schon der zweite nimmt ihrem Schmerz die Spitze. Winzige Schlucke umspülen ihr Zahnfleisch, Wärme breitet sich in ihrem Innern aus, die Knie werden weich. Ihr Körper fällt in eine wohltuende Taubheit, das quälende Hämmern im Kopf weicht einem Schluckauf, der in ihren Ohren widerhallt.
Sie erwacht von dem Geräusch des Windes, der gegen die offene Fensterluke peitscht, und weiß nicht, ob es morgens oder abends ist. Als sie sich mühsam vom Boden erhebt, steigt ihr ein Brechreiz in die Kehle. Die Luft rollt mit schwerem Gewicht über sie hinweg, der Zahnschmerz ist verschwunden, doch jemand scheint ihren Kopf in eine Schraubzwinge gepresst zu haben, und übel ist ihr, so übel. Mit geschlossenen Augen beugt sie sich über den Kohlehaufen und kotzt sich die Seele aus dem Leib – ihre Seele riecht säuerlich, schmeckt bitter wie Galle und ist nur noch durch einen Speichelfaden mit ihrem Inneren verbunden. Sie kommt sich riesig vor, wie aufgeblasen, die Füße vor ihr scheinen nicht ihre eigenen zu sein. Eine Stimme dringt zu ihr, sie schafft es, die Augen zu öffnen. Die Stimme ihres Bruders ist lauter, als sie sein sollte. Nach einer Weile begreift sie, was er ihr sagen will: Die Mutter ist im Krankenhaus.
Sie ist weg, wiederholt Alex, weg.
Undeutlich nimmt sie wahr, dass er weint.
Sie kommt wieder, sagt sie und hofft, es wäre nicht so. Sie hat Durst, großen Durst.
Wird sie sterben?, sagt Alex.
Sie schüttelt den Kopf, doch es ist ihr egal. Sie kann es kaum erwarten, ihren Kopf unter den Wasserhahn zu halten, noch nie hat sie einen solchen Durst verspürt.
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9
Seit der Fehlgeburt der Mutter ist ihr Vater wieder häufiger bei ihnen. Er versucht sogar einmal zu kochen, doch die Bohnen auf dem Herd werden einfach nicht weich. Sie wird jeden Abend in die Kneipe geschickt, um den Nachschub an Bier zu sichern. Ihr Vater erzählt Geschichten, die sie bald auswendig kennt, was für ein guter Sportler er war, neun Sekunden für 60 Meter, und das mit fünfzehn Jahren, sie erfährt alle Einzelheiten über seinen ersten Rausch und über die Kriegsverletzung seines Großvaters. Die Mutter verlässt kaum das
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