Das Mädchen: Roman (German Edition)
Bett.
Oft sind es schon früh morgens über dreißig Grad. Ihr kommt es so vor, als würden sich die Dinge um sie herum auflösen. Als sie die Treppen bohnert, scheint sie an den Stufen festzukleben. Während sie den Bohnerbesen über die Treppenstufen wuchtet, versinkt sie in ihren Tagtraum, geht in einer kühleren Luft durch den Wald, beginnt zu laufen, läuft, ohne sich umzudrehen.
Sie hat aus einem der lauten Selbstgespräche der Mutter erfahren, dass sie Zwillinge verloren hat, einen Jungen und ein Mädchen, mit einer klagenden Stimme ruft sie immer wieder nach ihren Babys. Sie versteht diesen Schmerz nicht. War es nicht das, was sie wollte? Es ist verwirrend, denn die Trauerrufe klingen echt, und schließlich begreift sie, dass die Mutter um sich selbst weint.
Dann ist von einem Tag auf den anderen wieder alles beim Alten, mit einem eisigen Hauch öffnet sich die Schlafzimmertür, und die Mutter inspiziert mit wütender Kraft die Wohnung, reißt die Fenster auf, erteilt Befehle.
Die Nacht vor dem ersten Schultag nach den Ferien scheint kaum zu vergehen. Sie gibt sich das Versprechen, eine gute Schülerin zu sein, freut sich darauf, die erste Seite eines neuen Heftes vollzuschreiben, sie verspürt den Ehrgeiz, ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft zu werden, vielleicht wird sie sogar freiwillig den Posten der Milchkassiererin übernehmen.
Sie holt Elvira vor dem Unterricht ab. Elviras Mutter ist noch dicker geworden, ihr Atem geht schwer, sie kommt nur noch seitlich durch die Tür. Sie kann sich nicht vorstellen, dass Elviras Mutter jemals ein junges Mädchen war, auch ihre Mutter kann sie sich nicht als junges Mädchen vorstellen. Wenn sie Fotos aus dieser Zeit betrachtet, ist ihr das auf eine merkwürdige Art peinlich, und besonders verstörend findet sie die Kinderbilder, auf denen ihre Mutter blond gelockt in einer Blechbadewanne planscht, ein pausbäckiges Mädchen mit einem verblüfften Lächeln im Gesicht.
Sie haben einen neuen Klassenlehrer, Herrn Baum, einen kleinen, durchtrainierten Mann, der nicht lange zu fackeln scheint. Schon in der zweiten Stunde fliegt sein Schlüsselbund in die hinterste Bankreihe und trifft den Störenfried am Kopf. Sie empfindet ein süßes Frösteln, weil nicht sie gemeint ist; der neue Klassenlehrer weiß nichts über sie. Sie versucht, ein interessiertes Gesicht aufzusetzen, jedem seiner Worte zu folgen. Doch während sie sich noch eifrig meldet, bemerkt sie, dass die Klassenbesten ebenfalls bemüht sind, Herrn Baum zu gefallen, und sie weiß, es ist ein aussichtsloses Unterfangen, mit ihnen zu konkurrieren.
Sie sprechen darüber, wie sich die Schüler im Falle eines Atomkrieges verhalten sollen; die Angaben des Lehrers kommen ihr unklar vor: Sie sollen sich auf der Straße neben die Bordsteinkante legen, die Augen geschlossen halten und sich so lange in den Straßenstaub pressen, bis alles vorbei ist. Wie kommen sie so schnell auf die Straße? Oder wird der Abwurf der Atombombe etwa vorher angekündigt? Der Lehrer zuckt über ihre Fragen die Achseln und räumt ein, dass sie sich zur Not auch unter ihre Schultische legen könnten.
Obwohl sie sich anstrengen wollte, vergisst sie schon bald die Hausaufgaben, stört den Unterricht, erhält den ersten Tadel. Wenn sie morgens zu spät kommt, bleibt sie vor ihrem Klassenzimmer stehen, die Stimme des Lehrers dringt durch die Tür, und sie traut sich nicht hineinzugehen, sie wartet bis zur Pause oder schwänzt die Schule, streift den Rest des Tages durch die Stadt.
Es gibt eine blinde, alte Frau, der sie manchmal über die Straße hilft. Die Frau erkennt sie an ihrer Stimme, ach, du bist es, sagt sie und nimmt vertrauensvoll ihren Arm. Einmal wünscht sich die blinde Frau, dass sie ihr erzählt, was sie sieht. Sie schaut sich um und erblickt nichts, was ihr erzählenswert erscheint. Es ist nicht viel los, sagt sie, die Leute stehen Schlange vor dem Gemüseladen, drei russische Soldaten laufen hintereinander am Bäcker vorbei, vor dem Milchmann putzt ein Junge sein Fahrrad. Wo sind die Tauben?, sagt die blinde Frau, und sie führt die Alte in den Clara-Zetkin-Park. Sie setzen sich auf eine Bank. Sie betrachtet die Blinde und spürt Lust, ihr Blödsinn zu erzählen, dass der Himmel grün ist, Kürbisse an den Bäumen wachsen und Hunde vorbeifliegen. Doch sie ist sich nicht sicher, ob die alte Frau seit ihrer Geburt blind ist, und so beschränkt sie sich darauf, das, was sie sieht, auszuschmücken. Die Tauben haben rot
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