Das Mädchen: Roman (German Edition)
lackierte Füße, sagt sie, und sie scheinen zu lachen, und tatsächlich, je länger sie die Tauben anstarrt, desto mehr meint sie, ein Lächeln in ihren Vogelgesichtern zu sehen.
Vielleicht sind es Lachtauben, sagt die blinde Frau verwundert, doch die leben in Afrika, nicht bei uns. Sie bewohnen wüstenartige Steppengebiete, das ist doch hier nicht der Fall, oder hat sich so viel verändert?
Sie versichert der Blinden, dass die Stadt immer noch eine Stadt ist, sie beschreibt ihr die Straßen und Häuser, bis sie bemerkt, dass die Frau neben ihr lacht: Aber Kindchen, das weiß ich doch.
Ich muss nach Hause, sagt sie, Abendessen, und außerdem übertragen Tauben Krankheiten. Die Blinde wendet sich ihr zu, und einen bestürzenden Augenblick lang fragt sie sich, ob die alte Frau nicht doch sehen kann. Sie verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, dennoch starrt die Frau unbewegt durch sie hindurch, und ehe sie sich wegdrehen kann, streicht die Blinde ihr übers Haar.
Ich muss jetzt wirklich gehen, sagt sie und bemüht sich, entschlossen zu klingen. Was gibt es denn bei euch zum Abendessen?, sagt die alte Frau, und sie erfindet die außergewöhnlichsten Gerichte, und dazu gleich noch eine besorgte, liebende Mutter. Das ist schön für dich, Kindchen, sagt die Blinde, und während des Rückwegs lügt sie weiter das Blaue vom Himmel herab, sie kann gar nicht mehr aufhören. Atemlos berichtet sie von ihren guten Zensuren, ihrer Beliebtheit in der Schule, von den anstrengenden Patenschaften, die sie übernommen hat, und solange sie spricht, glaubt sie selbst daran. Sie weiß zwar, dass sie lügt, und doch gibt es einen Raum für Wahrheit in ihren Lügen. Träume und Wünsche sind nicht unwahr, nur weil sie Träume und Wünsche sind, ohne ihre Träume würde sie niemals das Haus im Wald bewohnen, und sie wüsste wahrhaftig keinen Grund, warum das Leben sonst einen Sinn haben sollte. Sie versucht der Blinden am Gesicht abzulesen, ob sie ihr glaubt, doch sie kann nichts erkennen. Die alte Frau hat kurzes, fettiges Haar, das oben auf dem Kopf absteht wie eine zerdrückte Krone, es könnte auch eine Zauberin sein oder eine Hexe, und vorsichtshalber spricht sie leiser. Beim Abschied nimmt die Blinde ihre Hand, sagt, es wird alles gut, Kindchen, und verschwindet wie eine ihrer zerrupften Tauben im Hauseingang.
Zu Hause erwartet sie eine Abreibung, eine, die sich gewaschen hat, denn ihre Mutter ist vor schlechter Laune außer sich. Sie erzählt ihr von der blinden Frau. Das interessiert mich einen Scheißdreck, schreit die Mutter, du mit deinen Lügen, und dann verteilt sie ihre Schläge wütend und unkontrolliert.
Es macht keinen Unterschied, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt, denn die Mutter ist sowieso entschlossen, die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln. Doch sie beharrt auf ihrer Unschuld, kann sich nicht vorstellen, etwas angestellt zu haben, was solchen Zorn hervorruft, steigert sich in ihre Ausreden hinein, bis sie selbst nicht mehr weiß, was richtig oder falsch ist. Die Mutter sagt, ihre Augen seien überall, alles würde sie bemerken, sogar wenn eine Fliege sich die Füße leckt, doch ihre Tochter hat längst eine Technik entwickelt, sich ihren prüfenden Blicken zu entziehen. Sie verschwindet in der Raserei der Mutter wie in einem Strudel, lässt sich nach unten auf den Grund sinken und ist einfach nicht mehr da, auch wenn es für die Mutter anders aussehen mag.
[Menü]
10
Ihr Vater sieht die Mutter an, als würde sie eine fremde Sprache sprechen. Sie werden es noch einmal miteinander versuchen, ein letztes Mal, wie schon so oft. Er hat seit zwei Tagen nichts getrunken, und seine Tochter merkt, wie schwer ihm das fällt. Er hat Mühe, sich eine Zigarette anzuzünden, so sehr zittern seine Hände. Die Worte scheinen sich ihm zu widersetzen, niemand versteht, was er sagen will, und ihre Mutter benimmt sich, als verschaffe seine Schwäche ihr einen Vorteil. Das ist ein Trick, höhnt sie, will an seinen Gesinnungswandel nicht glauben, nach ihren Worten bleibt ein Säufer immer ein Säufer. Die frühe Herbstsonne fällt hell durch das Fenster und zeigt erbarmungslos das hagere Gesicht ihres Vaters. Seine Augen glänzen wie im Fieber, er gleicht einem ruhelosen, in der Falle sitzenden Wolfsschakal.
Am Abend knallt die Tür ins Schloss. Er ist verschwunden und mit ihm auch die Perlenkette der Mutter. Doch das bemerkt die Mutter erst später und verflucht Gott, der sich doch vorher gnädig gezeigt und das Drecksvieh
Weitere Kostenlose Bücher