Das Mädchen: Roman (German Edition)
sie ohne Widerworte zum Fotografen. Es ist kurz vor Ostern, in den Schaufenstern stehen Papphasen herum, bemalte Eier liegen in Körben, und sie muss kurz an zu Hause denken. Mit dem Fotografen besprechen sie das Format, es soll ein Schwarz-Weiß-Foto ohne Schmuckrand werden und so groß wie ein Briefumschlag. Während sie schon erwartungsvoll in die Linse starrt, versucht Andy vor dem Spiegel, die Haare nach hinten zu einem Entenschwanz zu kämmen. Als das Blitzlicht den Raum erhellt, spürt sie seinen Atem im Nacken, dann ist es vorbei. Auf dem Heimweg fühlt sie wie aus dem Nichts Verdrossenheit in sich aufsteigen, sie hat keine Lust zu reden, ihre Freude ist wie weggeblasen, und ihre Wut kommt für sie selbst ganz unerwartet. Am liebsten würde sie sich wie ein Affe durch die Bäume werfen und laute Urwaldschreie ausstoßen.
Als sie frühmorgens das Blut zwischen ihren Beinen entdeckt, ist sie überrascht, obwohl sie natürlich Bescheid weiß. Sie läuft zu der diensthabenden Erzieherin. Ich blute, sagt sie zu Frau Nissen, der Frau des Heimleiters. Sie muss an das Schwein denken, das im vergangenen Herbst im Hof des Heimes geschlachtet wurde, an die Wanne voller Blut. Die Kinder hatten das Schwein vorher wochenlang im Holzschuppen mit Küchenabfällen gefüttert. Sie weiß nicht, wie sie mit dem Geruch klarkommen soll. Frau Nissen gibt ihr Binden und erteilt ihr Hygieneratschläge, die anderen Mädchen schauen komisch, weil sie sich so affig anstellt. Sie hofft, dass sich ihr Körper verändern wird, dass sie Brüste bekommt, ihr nackter Hamster endlich Haare.
Eigentlich ist ihr die Jugendweihe egal, doch ihr gefällt, dass sie fortan von den Lehrern gesiezt werden wird und dass sie einen Personalausweis bekommt. Als sie verschiedene Kleider für den Festakt probiert, versucht sie sich einzureden, dass sie zugenommen hat. Sie entscheidet sich als einziges Mädchen in ihrer Klasse für einen Hosenanzug. Aber auch dieses Oberteil schlackert an ihr herum, die Hose rutscht ihr über die Hüften, obwohl sie die Knöpfe am Bund versetzt. Sie besorgt sich den kleinsten BH, stopft ihn mit Watte aus und zieht eine dicke Trainingshose unter die Hose des Anzugs.
Während der Friseur ihr die Haare auf Lockenwickler dreht, erfährt sie, dass der Waldbrand im vergangenen Jahr ein Anschlag aus dem Westen gewesen ist, auch beim lange zurückliegenden Eisenbahnunglück an der Küste soll der Westen seine Hände im Spiel gehabt haben, vierundvierzig Tote, wiederholt der Friseur voller Abscheu, der Westen ist doch zu allem fähig.
Obwohl sie den Laden mit ganz bestimmten Vorstellungen betreten haben – Radatte zeigt ein Bild von Gina Lollobrigida, sie selbst möchte wie die Geliebte von D’Artagnan aussehen –, verlassen sie das Geschäft mit den gleichen Frisuren; die Haare sind aus der Stirn nach hinten gesteckt, vor ihren Ohren kringeln sich die Korkenzieher. Auf dem Gruppenfoto, das sie später in den Händen hält, haben alle Mädchen diese Frisur.
In der Schulaula sitzen die kostümierten Mädchen, die Jungs tragen Anzug und Krawatte, der Direktor spricht, die Schüler wiederholen das Gelöbnis im Chor, geloben den Frieden zu verteidigen, die feste Freundschaft mit der Sowjetunion weiter zu vertiefen. Die Worte rauschen an ihnen vorbei, abgenutzt und bis zum Überdruss gehört, sind sie nichts weiter als leere Worthülsen, bedeutungslos für ihren Alltag.
Die Frühlingssonne strahlt schräg und warm durch die Fenster, zeigt Risse an den Wänden, Flecke auf Honeckers Lächeln. Als sie nach vorn geht, um sich das Buch Weltall, Erde, Mensch abzuholen, rinnt ihr Schweiß vom Hals den Rücken hinunter, wattige Hitze umgibt sie, die Trainingshose klebt an ihren Beinen. Der Direktor reicht ihr die Hand, sagt etwas, neigt den Kopf zur Seite, sie versteht kein Wort. Sie nimmt alles wie hinter einem Schleier wahr, die neuen Jugendweiheschuhe drücken, mit den lächerlichen vier Zentimeter hohen Absätzen überragt sie den Direktor. Während sie zurück auf ihren Platz geht, die Augen auf das verblichene Muster des Teppichs geheftet, versucht sie das Bild von sich auszublenden, das Bild einer staksenden Missgeburt. In ihrer Stuhlreihe angekommen, prustet sie los, kann nicht mehr aufhören zu lachen.
Conny trägt ein rosafarbenes, mit Perlen besetztes Kleid, ihr Gang ist schwingend, das Haar fällt ihr über die Schultern, leuchtend und dick wie Honig. Doch die Fingernägel ihrer Freundin sind bis auf die Haut abgebissen. Conny
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