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Das Mädchen: Roman (German Edition)

Das Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angelika Klüssendorf
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schaut zu.
    Die Mädchen sind schockiert, finden die Sache skandalös, doch sie winkt nur ab, das ist die sozialistische Strafe für Diebstahl, sagt sie, wusstet ihr das nicht?
    Sie fragt sich selbst, warum es ihr so wenig ausmacht, eine Antwort findet sie nicht; ein paar Schläge, denkt sie, na und, alles halb so wild, sie hat das Gefühl, als wäre nicht sie gemeint. Natürlich hasst sie den Heimleiter, noch mehr aber hasst sie seine feige Frau.
    Als sie einmal keine Lust hat, in die Schule zu gehen, weil sie sich sicher ist, in der Mathearbeit eine Fünf zu schreiben, täuscht sie eine Bauchschmerzattacke so gut vor, dass eine Erzieherin den Krankenwagen ruft. Es überrascht sie, dass selbst die Ärzte darauf hereinfallen und ihren Blinddarm für entzündet erklären. Kurz darauf liegt sie auf dem OP – Tisch und starrt schläfrig in das grelle Licht über sich. Die Stimme der Schwester verhallt, und während sie ein riesiges Schachbrett auf sich zukommen sieht, durchfährt sie ein heftiger Schmerz. Ihr Mund aber bleibt geschlossen, sie kann nicht schreien, nicht einmal mit den Augen zwinkern, das Schachbrett nimmt Geschwindigkeit auf, stürzt hinab und zieht sie mit in die Tiefe.
    Als sie aufwacht, ist ihr kotzübel, sie hat großen Durst und verflucht sich für ihre dämliche Ausrede. Sie liegt in einem großen Saal mit zwölf Betten. Sie stöhnt laut, verlangt etwas zu trinken. Sie darf zunächst kaum Flüssigkeit zu sich nehmen, erklärt ihr die Schwester, ehe sie einige Tropfen aus einem nassen Waschlappen in ihren Mund fallen lässt. Die nächsten Tage verträumt sie zwischen Fiebermessen, Hunger, Durst und Langeweile, sie hat nicht einmal ein Buch dabei.
    Eine neue Patientin wird frisch aus dem OP in den Saal gerollt. Als sie wach wird, setzt sie sich sofort auf und sagt laut vernehmbar: Grüß Gott, alle miteinander, ich bin die Marianna. Die anderen Frauen tauschen Blicke aus, eine solche Begrüßung sind sie nicht gewohnt. Sie grüßen so leise zurück, als würde Honecker, der natürlich auch hier von den Wänden lächelt, sonst vor Schreck aus dem Bilderrahmen fallen. Marianna ist über dreißig, unter ihrem dunklen Haar schimmert hell die Kopfhaut hervor, sie trägt ein langärmeliges weißes Nachthemd. Als der Arzt sie untersuchen will, ziert sie sich wie ein junges Mädchen, lacht auf eine glucksende, schamhafte Art. Sie geht schon am ersten Tag allein auf die Toilette. Vor der Nachtruhe spricht Marianna laut ein Gebet.
    Einmal kommt Marianna zu ihr ans Bett. Die Bibel kann Halt geben, sagt sie, während sich rote Flecke auf ihren Wangen ausbreiten, und der Herr ist für alle gestorben. Als Marianna dann gefühlvoll zu singen beginnt, hofft sie, dass niemand glaubt, ihr würde so etwas gefallen.
    Ihr werden die Fäden gezogen, die Narbe auf ihrem Bauch ist groß und hässlich. Sie fährt mit dem Bus ins Kinderheim, eine Bibel und die Adresse von Marianna in der Tasche.
    Die Sonne steht hoch und brennt. Oft haben sie ganze Tage hitzefrei. Sie ist dazu übergegangen, den BH mit Socken auszustopfen, unter ihren langen Hosen trägt sie selbst bei der größten Hitze immer noch eine Trainingshose. Sie hat sich daran gewöhnt zu schwitzen.
    Im Garten wird ein kleines Schwimmbad gebaut, sechs mal sechs Meter groß, die Patenbrigade aus den Buntgarnwerken hilft dabei. Die Männerstimmen schallen laut durch die Luft, vermischen sich mit dem aufgeregten Geschnatter aus der Gänsefarm. Sie liegt auf dem Sofa im Gruppenraum und kann nicht aufhören, in diesem Buch zu lesen, Geliebte Söhne von Howard Spring, noch nie hat eine Geschichte sie derart erschüttert. Es geht um Liebe, die Liebe eines Vaters zu seinem Sohn. Als sie den Roman beendet hat, ist sie so überwältigt und ergriffen, dass sie heult. Sie will Howard Spring danken, sie will ihm schreiben. Es gibt also jemanden auf der Welt, der sie versteht, obwohl er sie gar nicht kennt.
    Als Mui das Buch ausgelesen hat, geben sie einander das Versprechen, ihre Kinder nach den Romanfiguren zu benennen, Maeve soll die Tochter heißen, Oliver der Sohn. Mui findet heraus, dass Howard Spring schon tot ist, sie trauern um ihn, mit dem Schwur, ihn niemals zu vergessen.
    Das Schwimmbad wird eingeweiht, es sind fast vierzig Grad im Schatten, doch sie geht nicht ins Wasser. Sie hat keine Lust, dass die Jungs bei ihrem Anblick vor Lachen brüllen.
    Die Tage scheinen wie eingeschlafen, sie sitzt auf einer Bank im Schatten und versucht ein Gedicht für die Schule zu

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