Das Maedchen und der Luegner
gespielter Strenge die Unterhaltung ab. »Seht nur, das Wetter spielt wieder einmal verrückt. Überall hat es Überschwemmungen gegeben in den letzten Tagen. Da, jetzt zeigen sie Norddeutschland. Dort ist es wieder einmal ganz schlimm zugegangen.« Der Gynäkologe seufzte auf. »Wie wird das noch enden?«
Seine Frau widmete jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit dem Fernsehprogramm, und auch Tanja konnte den Blick kaum von den entsetzlichen Bildern wenden, die sich ihr boten.
Wassermassen quollen über die Straßen, führten allerlei Unrat mit sich, und dazwischen wurden immer wieder die Hilfsmannschaften eingeblendet, die teilweise vergeblich versuchten , zu retten, was noch zu retten war.
»Entsetzlich!« flüsterte Tanja. »Es ist einfach entsetzlich. Wenn man solche Bilder sieht, könnte man regelrecht verzweifeln an der ganzen Welt.« Sie unterdrückte die aufsteigenden Angstgefühle.
»So dürfen Sie das nicht sehen, Tanja.« Der Arzt wandte sich um. »Schon immer, seit Menschengedenken, hat es solche Unwetter gegeben. Sie gehören zum ausklingenden Winter, zum beginnenden Frühling wie das Vogelgezwitscher und die neue Schaufensterdekoration in den Boutiquen. Es ist furchtbar, was da immer geschieht, und doch darf man sich davon nicht verrückt machen lassen.«
Tanja wollte gerade antworten, da erschien ein anderes Bild auf dem Bildschirm. Ein Mann in hohen Stiefeln, mit gelbem Regenmantel und nassen Haaren, die an seinem Kopf klebten, wurde eingeblendet. In den Armen hielt er eine völlig durchnässte Katze, die sich voller Angst an ihn schmiegte. Der Unbekannte schien die Kamera gar nicht zu bemerken, die ihn filmte. Nur die Katze war wichtig. Behutsam schob er sie unter seinen Regenmantel, um sie an seinem Körper zu wärmen.
Das Beeindruckende jedoch war sein Gesichtsausdruck. Freude und Erleichterung spiegelten sich in seinen Zügen wider, weil er es geschafft hatte, das verängstigte Tier zu retten.
Jedenfalls empfand Tan ja es so. Sie konnte den Blick gar nicht von diesem Mann wenden, und doch war der Augenblick, während dem sie den Fremden betrachten konnte, viel zu kurz. Die Kamera schwenkte weiter, zeigte wieder die ebenmäßige braune Wasseroberfläche, die überfluteten Wiesen und die einstmals schmucken Häuser, deren Vorgärten von den nassen Massen einfach überflutet worden waren.
Dann erwähnte der Sprecher beiläufig, in welchem Städtchen diese Filmaufnahmen gemacht worden waren. »Olsberg«, sagte er und erzählte noch etwas von dreitausend Seelen, die dieses Städtchen bevölkerten.
In Tanjas Kopf jedoch brannte sich der Name unauslöschlich ein. Olsberg, sagte sie sich immer wieder, Olsberg heißt es. Auf eine seltsame Weise kam ihr der Name vertraut vor, obwohl sie ihn noch nie zuvor gehört hatte.
Natürlich merkte das Arztehepaar nichts von Tanjas Verw irrung. Die junge Frau gab sich freundlich, schützte jedoch bereits kurz nach den Nachrichten Müdigkeit vor, um sich in ihr Zimmer zurückziehen zu können.
»Ist schon in Ordnung, Tanja«, sagte Frau Dr. Wollner und musterte das Mädchen mit wohlwollendem Blick. »Schlafen Sie sich noch einmal eine Nacht gut aus. Ich hoffe ja, dass Sie uns morgen in der Praxis wieder zur Seite stehen können, sonst müssten wir bei einem Kollegen um eine Aushilfe bitten.«
»Das wird ganz bestimmt in Ordnung gehen«, antwortete Tanja leichthin. »Ich fühle mich schon wieder richtig wohl. Ich bin nur noch ein bisschen müde. Außerdem.-.sie warf einen demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr, » ... außerdem ist jetzt ohnehin meine Zeit. Sie wissen doch, dass ich gern früh zu Bett gehe. Wir sehen uns also morgen.«
Sie verabschiedet e sich von dem Ehepaar und lief dann eilig hinauf in ihre kleine Wohnung unter dem Dach. Hastig zog sie die Schuhe aus und legte sich in ihrem warmen Jogginganzug aufs Bett.
In der Nachttischschublade hatte sie einen Atlas, der für diesen Abend ihre Lektüre werden würde. Es dauerte auch gar nicht lange, da hatte sie gefunden, was sie suchte.
Olsberg! Tanja schloss die Augen und sah ein kleines Städtchen vor sich mit schmucken Häuschen, bezaubernden Vorgärten, winkeligen Straßen, und etwas außerhalb herrlich saftige Wiesen, auf denen Kühe weideten.
Eine tiefe Sehnsucht breitete sich in ihrem Herzen aus, und sie wußte, dass sie von diesem Abend an nur noch von ihm träumen würde, von jenem Fremden, den sie im Fernsehen gesehen hatte.
Nie würde sie seinen Gesichtsausdruck vergessen. All die Liebe,
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