Das Mädchen und der Schwarze Tod
einmal wieder normal mit ihm reden!
»Bist du deswegen hier? Um zu sehen, wie weit das Bild ist?«
»Auch deshalb. In Paris gibt es in einer Kapelle bereits einen fertigen Totentanz. Ein prachtvolles Stück.«
»Ich kenne das Bild.«
»Doch Eurer wird noch eindringlicher! Das Volk meiner Mutter schätzt so etwas.«
»Welches Volk ist das?«, hakte der Maler nach.
»Ah. Das erklärt es. Sie war Slawin.«
»Erklärt was, Bursche?«
»Dass Ihr nicht wisst, wie Ihr ihn malen sollt. Veles. Den Tod. Er ist keine Figur. Der Tod treibt den Tanz voran, mein Freund. Der Tod. Nicht die Lebenden.« Fast zärtlich trat der Spielmann näher und hob die Finger, ohne das Bild jedoch zu berühren.
»Was soll er denn dann sein, Kerl, wenn keine Figur? Ein Gott? Ein Teufel? Ein Satan?«
Der Spielmann lachte nur leise. »Er ist keins von alledem und doch alles zugleich, Herr. Er ist der Tod.« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Er ist eine Naturgewalt. Er kennt keinen Herrn und keine Gnade. Freudig mäht er sich durch Schlachtfelder und fegt ganze Städte hinweg. Jeder kennt das Gesicht des Todes, und viele fürchten es. Manche aber lieben dieses Antlitz. Denn im Gefolge des Todes bleibt nichts, wie es einmal war.«
Notke schauderte wieder, als er dem Mann so zuhörte. Seine Worte klangen fast schadenfroh – als würde er Mord, Pest und Chaos in Lübeck willkommen heißen! »Manche Leute lieben das Leben, wie es ist«, zischte er. »Und viele Leute werden das Antlitz des Todes verfluchen, jetzt wo die Pest heran ist. Aber dann seid ihr Fahrenden längst weg, nicht wahr?«
Doch der Spielmann schüttelte den Kopf. »Wir gehen nirgendwohin. Wir werden in den Straßen Lübecks tanzen, wenn der Tod hindurchschreitet.« Nun drehte sich der Mann um und sah Notke in die Augen. »Im Gegenteil – die aufrechten Lübecker sind es, die ihre Stadt fliehen. Sie ahnen nicht, dass man dem Tod nicht entkommen kann, egal, wohin man geht.« Der Blick war so durchdringend und forschend, dass Notke fürchtete, der Mann lese in ihm wie in einem offenen Buch. Irritiert sah der Maler zu Boden. Auch er hatte daran gedacht, vielleicht nach Reval heim zu seiner Familie zu gehen. Wenn er daran dachte, an scheußlichen, schmerzhaften Beulen zu krepieren wie eine Ratte, klang das nicht mehr so übel. Doch Notke hatte sich entschlossen zu bleiben. »Kann man es den Leuten denn verdenken?«, fragte er verärgert.
»Nein«, sprach der Spielmann sanft. »Doch jeder von ihnen trägt das Zeichen des Todes bereits auf seiner Stirn. Sie werden dafür sorgen, dass die Pest bis in die hintersten Winkel dieses Landstriches tobt. Diese Menschen tragen den Tod nach Schonen, nach Bergen und nach Reval. Sie sind der Tod, Maler!« Die gierigen Augen des Mannes lauerten auf jede Reaktion. Dann machte er einen Schritt auf das Gemälde zu. »Der Abt sieht ja besser aus als im Leben«, lobte er spöttisch. »Und der Bürgermeister auch! Er war doch viel fetter.«
Dem Maler war diese Heimlichtuerei zu viel. »Hör auf, mit mir zu spielen, Bursche!«, fauchte er wütend. »Wenn du weißt, was gut für dich ist, dann sagst du mir, was du hier verloren hast!«
Die Augen des Flötenspielers verengten sich. »Nichts, offenbar. Denn die Reihe ist ja noch nicht fertig.« Damit drehte er sich um und verschwand in das Kirchenschiff. Notke machte zwei Schritte aus der Kapelle heraus, um dem Kerl nachzuschauen. Er atmete beinahe erleichtert auf. Zumindest wusste der Maler nun eines: Seine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Er, Bernt Notke, war Teil einer satanischen Bruderschaft, die ganz offenbar einen Dämon verehrte. Und Oldesloe stand an der Spitze dieser Teufelei.
Notke sah zu seinem Bild und begutachtete den Abt und den Bürgermeister selbst noch einmal kritisch. Ja, beide sahen gesünder aus als im Leben. Bernt hatte sich bemüht, die Männer so vorteilhaft wie möglich abzubilden. Das war er diesen Menschen einfach schuldig.
Die Erkenntnis traf Bernt Notke wie ein Schlag. Wie konnte er – ausgerechnet er – den Zusammenhang zwischen den Toten und seinem Gemälde übersehen haben? Er selbst hatte die ihm unbekannten Toten sogar selbst aufgesucht, um eine Ähnlichkeit herstellen zu können. Sicher hatte er sich bei den ausgefalleneren Figuren wie dem Kartäuser schon ein wenig gewundert, dass er Vorlagen im echten Leben dafür fand. Doch nun wurde ihm klar, dass alle größeren Todesfälle der letzten Zeit einer Figur im Totentanz entsprachen.
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