Das Mädchen und der Schwarze Tod
wischen, um etwas zu erkennen, und erkannte seinen Irrtum. Er war nicht zum Gang gerobbt, sondern zu dem hölzernen Marienschrein, den Marike so liebte, und mit dem Kopf an das Kniebänkchen geprallt. Nun bot sich keine Gelegenheit mehr, an den Schlägern vorbeizukommen.
Der Gedanke an das verträumte Mädchen, das in den letzten Tagen so bedrückt gewesen war, verursachte einen Knoten in Martins Hals. Er musste entkommen, musste sich irgendwie befreien. Er konnte Marike nicht allein lassen, nicht jetzt!
Ein zweiter Schlag in die Seite warf ihn herum und ließ den Priester aufstöhnen. »Nicht …« Doch er wusste, dass seine Angreifer ihm keine Gnade gewähren würden. Diese Männer warnten ihre Opfer nicht. Sie wollten ihn zum Schweigen bringen. Seine Hand fühlte Holz, und er erkannte seine Chance. Hastig stopfte er das Pergament, das er fest in der Faust hielt, in eine Nische hinter den Sockel des hölzernen Altars, der hier stand. Mit ein bisschen Glück würde der Schläger denken, er würde sich hier verkriechen wollen, und entdeckte den Zettel nicht. Marike würde um ihn trauern, und dazu würde sie mit Sicherheit auch hierherkommen. Und vielleicht, mit noch etwas mehr Glück und der Hand des Herrn, würde sie seine Nachrichtf finden und wüsste, was zu tun war! Er betete, dass Gott ihr die Stärke verleihen würde, den letzten Teil des Weges allein zu gehen.
Martin lag im Schrein auf dem Rücken, halb zwischen Statue und Seitenwand. Er blinzelte benommen in das sanfte Licht, das sich unter den Baumkronen fing und die Atmosphäre eines schützenden Himmelsdaches erzeugte. Über ihm sah er zwei Gestalten aufragen. Offenbar hatten sie es nicht eilig. Dann erkannte Pater Martin einen der Männer, und seine Augen wurden groß. Das konnte – das durfte nicht wahr sein! Beim Herrn Jesus Christus, das durfte nicht wahr sein!
»Ihr!«, keuchte er heiser, denn er hatte Schwierigkeiten, Luft zu schöpfen. »Es ist also wahr! Wie könnt Ihr nur …?« Tränen füllten seine Augen und ließen seine Sicht wieder verschwimmen.
Die Stimme des Gegenübers war kaum mehr als ein raues Flüstern. »Das, mein Freund, werdet Ihr nie verstehen.«
Der dritte Schlag traf ihn auf den Kopf.
Bernt Notke rannte die Königstraße hinauf. Eine Schweinemagd trieb hastig ein widerspenstiges Tier aus dem Weg, ein Bettler hielt am Brunnen an der Hundestraße die Hand auf, doch die Wasserträger und Waschweiber kümmerten sich kaum um ihn. Alle glotzten dem Mann hinterher, der mit einem Knüppel in der Hand die Straßen entlangrannte, als sei ihm der Leibhaftige auf den Fersen.
Vor der Pforte zum Marienkapellhof senkte er das Holz in der Hand ans Bein, um nicht so angriffslustig und wild auszusehen. Er atmete ein paarmal durch, versuchte, eine Ahnung von Unheil zu unterdrücken, und schob die verwitterte Holztür auf. Gestrüpp, einige Grabsteine und Holzkreuze empfingen ihn über den grasbewucherten Hügeln. Bernt Notke machte einen Schritt vorwärts, um den ganzen Hof einsehen zu können. Hinter der Mauer blieb er stehen und sah sich um. Ein Knacken schreckte ihn auf. Er fuhr herum, das Holz schlagbereit erhoben. Eine Katze sprang vom Dach der kleinen Kapelle herab und raste in Droghes Gang. Es dauerte einige Augenblicke, bis sich Bernts Herzschlag wieder beruhigt hatte.
Dann hörte er das Stöhnen. Vorsichtig umrundete er den breiten Lindenbaum und einige Gräber, bis er direkte Sicht auf die Kapelle hatte, in der eine hölzerne Maria mit Jesuskind stand. Ihr zu Füßen, mit dem Rücken halb gegen die Bretterwand gelehnt, lag ein bärtiger Mann in brauner Tunika, daneben eine vertraute Gestalt in schwarzer Soutane.
»Pater Martin!« Notke sprang vorwärts und beugte sich über den am Oberkörper über und über mit Blut bedeckten Mann, dessen riesige Schlitzbügelbrille zerbrochen unter dem Altar lag. »Martin! Hört Ihr mich?« Der Maler ließ das Holz fallen und berührte den Priester vorsichtig an den Schultern, um zu schauen, ob ihm noch zu helfen war. Sofort klebte das Blut an seinen Fingern, das von der Schläfe am Hals entlang in den schwarzen Stoff gelaufen war.
»Martin! Auf! Ich bin’s, Notke!« In dem Pater war beinahe kein Leben mehr. »Martin, bleibt bei mir! Martin!« Wild rüttelte der Maler den Priester. »Wer hat Euch das angetan? Martin! Sagt doch etwas!«
Und tatsächlich flatterten die Lider des Priesters leicht. Er schaute ihn an. Die eine Hand, die zur Statue ausgestreckt war, zuckte und ruckte
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