Das Mädchen und der Schwarze Tod
fremd und schlecht. Ich dachte erst, du wärst nicht so wie die anderen. Doch du bist genau wie sie.« Er nickte über die Stadt. »Ihr glaubt, ihr seid die Herren der Welt? Ihr seid wie Schafe, die sich im Regen aneinanderdrängen. Wirklichen Mut hat keiner von euch. Mut hat eine Hure, die allein im Wald ihr Kind gebiert und es nicht im nächsten Bach ertränkt, obwohl sie weiß, dass es keinen Tag geben wird, an dem sie nicht dafür kämpfen muss, es satt zu kriegen. Mut hat der Bettelmönch, der von Stadt zu Stadt wandert, um Armut und Einkehr zu predigen, statt in goldgeschmückten Gewändern zu schlafen und von den üppigsten Banketten zu schlemmen, wie es eure fetten Pfaffen tun. Mut hat der Schausteller, der den Reichen und Mächtigen mit seinem Spiel einen Spiegel vorhält, damit sie über sich lachen können und einsehen, wie selbstsüchtig und rücksichtslos sie wirklich sind.« Der Mann verstummte und starrte sie aus dunklen Augen an.
Marike versuchte ein Lächeln. Beinahe meinte sie, Pater Martin aus dem Burschen sprechen zu hören. »Ich glaube, so verschieden sind unsere Götter gar nicht«, meinte sie zaghaft.
Er beobachtete sie eine Weile. »Hast du Mut?«, fragte er schließlich. »Oder wirst du dich weiter selbst bemitleiden und hier verzweifeln?«
Die junge Frau seufzte und zuckte mit den Schultern. Sie blickte zu der Marienstatue hinüber, zu der schon ihre Mutter gebetet hatte. Elisabeth Pertzeval hatte stets geholfen, wenn ihr das Elend begegnete. Sie erinnerte sich an das kristallklare, weiße Winterland, in dem sie die tote Mutter so oft besucht hatte – zumindest in ihren Träumen. Sie wusste nicht mehr, wann es ihr das letzte Mal gelungen war, in dieses Bild aus ihrer Einbildung hineinzutauchen. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.
»Was kann ich denn noch tun?«, fragte sie müde. »Es ist doch alles vorbei.«
Doch der Fahrende lächelte bissig. »Wenn du aufhören würdest, an dich selbst zu denken, dann wüsstest du, dass du sehr wohl noch etwas tun kannst.«
Marike sah hoffnungsvoll auf. »Was?«
»Wer tanzt als Letzter im Totentanz?«
Sie sah ihn verständnislos an. Also rezitierte er leise und eindringlich: »O Tod, wie soll ich das versteh’n, ich soll tanzen und kann nicht geh’n? Wie weinet meine Mutter so sehr... O gib mich der Erden wieder her!«
»Dann... dann ist auch die Jungfrau letzte Nacht gestorben?«, fragte sie gepresst.
»Eine Hure namens Karla. Ein armes Ding.«
Marikes Gedanken überschlugen sich. Die letzte Figur im Totentanz war das Kind. Und sie wusste, wer sterben sollte. Die Erkenntnis trieb ihr die Übelkeit in den Hals. »Nein«, stöhnte sie und krümmte sich, um den Würgereiz zu unterdrücken. »Er wird doch nicht … Felix!«
»Wird er nicht?«
Natürlich würde ihr Vater das tun. Wenn er dem alten Willem nur deshalb Obdach angeboten hatte, um ihn als Opfer in seiner Nähe zu behalten, dann hatte er auch den kleinen Felix nur in seinem Haus aufgenommen, um stets zu wissen, wo er ihn finden konnte. Und Marike hatte ihn in die Höhle des Löwen geführt.
»Dieser Bastard«, zischte sie in kalter Wut. »Dieser gottverdammte Bastard! Er hat den Tod verdient.« Sie hatte Oldesloe beinahe getötet. Das hatte ihr Lyseke abgenommen. Jetzt wusste sie, wie Lyseke sich gefühlt haben musste – grimmig entschlossen, den Vater für seine Verbrechen büßen zu sehen.
Der Flötenspieler lächelte nicht, als er sanft erwiderte: »Verdient hat er ihn sicherlich...« Doch seine Augen blickten traurig.
Marike hörte ihm nicht zu. Sie krallte den Brief Pater Martins fester, drehte sich um und machte sich mit langen Schritten auf. Vorbei an dem Brauhaus und durch Droghes Gang, um den schnellsten Weg zur Marienkirche zu nehmen. Heute war Mariä Himmelfahrt. Heute sollte die Totentanzkapelle in der Marienkirche geweiht werden. Heute würde Johannes Pertzeval beenden, was immer er mit seinen gottlosen Untaten auch bezweckte. Und heute würde Marike seinem unheiligen Werk ein Ende machen, das schwor sie bei der Muttergottes und allen Heiligen.
DAS KIND
»Alles leer«, murmelte Felix irritiert. Seine Hand schlüpfte in die von Johannes Pertzeval, der neben ihm die Straße entlangging. So ausgestorben kannte der Junge Lübeck gar nicht. Doch die Pest, die schlimme Krankheit, die auch seinen Vater geholt hatte, die wütete noch immer in der ganzen Stadt. »Kommt Marike später?«, fragte er hoffnungsvoll und lugte zu dem alten Mann empor. Zwar mochte er den lange
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