Das Mädchen und der Schwarze Tod
seine Last auf den armen Clemens rollen ließ. Und genau so ist es gekommen.
Nun würde ich dem Wort eines Herumtreibers vielleicht weniger Gehör schenken, wenn er die Situation nicht konkret beschrieben und sogar einen weiteren Zeugen benannt hätte – den alten Klausner Willem. Ihn müssen wir als zweiten, wenn auch ebenfalls wenig glaubwürdigen Leumund befragen.« Marike ließ das Schriftstück sinken. Dann war der Teufel, vor dem Willem solche Furcht gehabt hatte, ihr eigener Vater gewesen? Guardian Clemens war seine Verbindung zu ihrer Mutter zum Verhängnis geworden. Und den Klausner schien der Vater nur beherbergt zu haben, um ihn schließlich töten lassen zu können. Gab es einen schlimmeren Verrat als den, christliche Mildtätigkeit in ihr Gegenteil zu verkehren?
»Ich weiß nicht genau, ob die Worte dieses Mannes stimmen«, las Marike weiter, »doch wenn darin nur ein Körnchen Wahrheit liegt, dann müssen wir handeln. Warum dein Vater so Schreckliches tun sollte, ist mir schleierhaft, ebenso, wie all diese Umstände miteinander zusammenhängen. Doch wenn Johannes Pertzeval hinter den Todesfällen steckt, dann bist du, Marike, die Einzige, die das herausfinden kann. Du bist die Einzige, die vor ihm sicher ist, und auch die Einzige, die zu ihm vordringen könnte. Und wenn du Beweise findest, Marike, dann bist du auch die Einzige, die ihn von seinem üblen Pfad abbringen und zurück auf den rechten Weg führen kann.
Ich weiß, dies ist eine große Bitte, und auch eine schwere Verantwortung. Gäbe es eine andere Möglichkeit, ich würde sie vorziehen. Doch du weißt so gut wie ich, dass man einem Johannes Pertzeval nichts vorwirft, ohne handfeste Belege oder Zeugen von angesehenem Leumund dafür zu besitzen.
Wisse, dass ich in meinen Gebeten bei dir bin. Ich hoffe, dass wir uns am nächsten Sonntag in der Kirche sprechen können, wenn du zur Beichte kommst. Martin.«
Wieder ließ die junge Frau das Pergament sinken und starrte ins Leere. Sie kniete noch immer auf der Bank vor dem Marienaltar und spürte, wie das Hemd am Saum langsam durchweichte, denn Gras und Erde waren hier noch nass. Der besagte Sonntag war nun vier Tage her. Sie verstand Martins Zweifel an der Geschichte des Flötenspielers. Sie selbst hätte den Brief des Paters verlacht, wenn sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, dass ihr Vater der Kopf dieser unheiligen Verschwörung war. Sie wusste nun, dass der liebe Martin aus zweierlei Gründen gestorben war. Der Kaplan aus dem Totentanz hatte sterben müssen. Und er war den Mördern zu nah auf den Fersen gewesen. Marike hörte ein leises Plitschen hinter sich. Sie hatte keine Furcht, denn sie wusste, wer hinter ihr stand.
»Du hast es also von Anfang an gewusst«, sagte sie leise.
»Hättet Ihr mir geglaubt?«, fragte der Flötenspieler rau.
»Nein«, erwiderte Marike aufrichtig. »Ich hätte dich mit Knüppeln aus der Stadt jagen lassen. War das der Grund, warum du am Pranger gestanden hast?« Sie erhob sich nun von der Kniebank und drehte sich zu dem Fahrenden um, der sein verschossenes Wams trug. Er sah zotteliger und wilder aus denn je. Jetzt nickte der Mann, und seine unruhigen Augen schmunzelten. »Ich hab’s dem Fron erzählt. Es war wichtig genug, den Kerker zu riskieren.«
»Da hast du noch Glück gehabt«, murmelte Marike. »Man hat schon Leuten die Zunge rausgeschnitten, weil sie übel über hohe Herrschaften sprachen.«
»Der Fron hatte wohl’nen guten Tag«, grinste der Flötenspieler. »Doch wenn ich ehrlich sein soll, wusste ich erst auch nicht, ob ich dir trauen kann. Ich dachte, du wärst mit deinem Vater im Bunde.« Er musterte sie.
Marike wurde sich bewusst, dass sie nur ihr langes helles Hemd trug und sonst nichts. »Du hast damals meinen Vater gesehen?«, fragte sie.
Der Mann strich sich über den Bart und sah sie prüfend an. »Ja, das habe ich. Du bist nicht überrascht, dass er dahintersteckt?«
»Nein.«
»Wusstest du davon?«
»Nein. Ich habe es erst gestern herausgefunden.«
»Aber der Pater …«
»Der Pater starb, bevor er mit mir sprechen konnte. Hier«, sie hob das Pergament, »ist sein Zeugnis an mich. Er schreibt, er habe mit dir gesprochen.«
Der Fahrende nickte, doch er zuckte mit den Achseln. »Er hat mir nicht geglaubt.«
»Er hat dir immerhin so weit geglaubt, dass er deine Worte weitergetragen hat«, erwiderte Marike. Dann seufzte sie. »Doch das ist nicht wichtig. Nicht mehr. Alles ist vorbei. So viele Menschen sind gestorben
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