Das Mädchen und der Schwarze Tod
umliegenden Häusern leicht übersehen konnte. Doch für sie war dieser Ort mehr als nur ein Friedhof, er war eine Zuflucht. Also öffnete sie die kleine quietschende Tür in der Mauer und schloss sie hinter sich wieder sorgfältig.
Der alte Kapellhof, auf dem Lisbeth Pertzeval schwanger den Namen ihrer Tochter gewählt hatte, sah unverändert aus. Und doch spürte die Tochter einen Wandel. Nur zögernd näherte sie sich dem Marienschrein, an dem sie so oft gebetet hatte. Der kleine hölzerne Aufbau schien geschrumpft, seit Marike das letzte Mal hier gewesen war, um sich mit Pater Martin zu treffen. Seitdem war zu viel geschehen. Würde sie beschmutzen, was doch stets rein gewesen war?
Langsam ließ sich Marike auf die Kniebank nieder und bekreuzigte sich. Sie faltete die Hände und wollte beten, doch weiter als »Ave Maria, gratia plena« kam sie nicht – Gegrüßet seist du, Maria voll der Gnade. Sie starrte auf den massiven Altar, der auf einem Holzsockel stand. Sie konnte nicht beten.
Dunkelbraune Spritzer auf dem Holz weckten ihre Aufmerksamkeit. Sie streckte die Hand aus und kratzte daran. Ihre Befürchtung bewahrheitete sich: Dies war getrocknetes Blut. Sie schluckte schwer, denn so gegenwärtig ihr der Tod des väterlichen Freundes stets gewesen war, sie erkannte nun, dass sie eben an derselben Stelle kniete, an der Pater Martin erschlagen worden war. Sie würde diesen Ort niemals wieder mit derselben Andacht besuchen können wie früher.
Marike wollte schon aufschrecken und zurückweichen, als sie eine Scherbe von Martins dicker Brille fand. Notkes Worte kamen ihr in den Sinn. In der Fronerei hatte er ihr beschrieben, wie er Pater Martin gefunden hatte. Beim Schrein der Maria hatte er gesagt. Er schien nach der Statue zu greifen.
Sie beugte sich so, dass sie hinter den Sockel schauen konnte. Dort steckte zwischen dem Holz von Altar und Wand ein mehrfach gefaltetes Stück fleckiges Pergament. Was konnte das sein? Die junge Frau zog es heraus und schnupperte kurz daran – es roch nach Rost.
Zögernd klappte Marike das Pergament auf. Oben erblickte sie Pater Martins saubere, winzige Handschrift – und las ihren eigenen Namen. Der Freund war hergekommen, um Bernt Notke zu treffen, doch stattdessen hatte sein Mörder hier gewartet. Trotzdem war es ihm noch irgendwie gelungen, eine Botschaft für sie hier zu hinterlegen, von der er wusste, dass nur sie sie vielleicht finden würde. Dieses Schriftstück enthielt die letzten Zeugnisse von Martins Hand, vielleicht seine letzten Erkenntnisse zu den Todesfällen in Lübeck.
»Marike, mein Kind«, stand da, »wenn du diese Zeilen erhältst, ließ sich ein Gespräch mit dir nicht ohne Aufsehen einrichten. Ich wünschte, ich könnte dir diese Neuigkeiten selbst überbringen, denn sie werden dich schmerzen. Doch wichtiger ist, dass du davon umgehend Kunde erhältst, denn wir sind alle in Gefahr, und du vielleicht noch am meisten, auch wenn du das nicht weißt.
Es ist mir gelungen, den Flötenspieler zu finden, von dem du erzählt hast. Ich habe ihn einer ernsten und eindringlichen Befragung unterzogen, bei der ich feststellen musste, dass er ein rechter Halunke ist. Doch das wird dich nicht überraschen.« Marike musste unwillkürlich lächeln, denn in dem ehrlichen Tonfall erkannte sie Pater Martin.
»Er ist aber auch ein anständiger Kerl, wie es mir scheint, der das Herz am rechten Fleck hat. Was dir vermutlich auch neu sein wird, ist die Tatsache, dass er mitnichten in das Mordkomplott verwickelt ist, das uns dieser Tage so beunruhigt. Ja, er hat heftige Worte gegen dich geführt, doch er ist ein misstrauischer Bursche, der weiß, dass sein Wort in unseren Kreisen wenig zählt.« Nun runzelte Marike die Stirn. Wie hatte Pater Martin denn erkannt, was im Kopf dieses Schurken vorging?
»Besonders wenig aber zählt das Wort eines unehrlichen Mannes, wenn es gegen einen angesehenen Bürger geführt wird, dem niemand Übles zutrauen will. Genau das ist in diesem Falle geschehen. Marike, ich weiß, es ist kaum glaubhaft, was der Mann berichtet, doch du vor allen anderen musst seine Worte hören, denn sie betreffen dich und deine Familie. Und nur du allein kannst überprüfen, ob sie einen Kern Wahrheit bergen oder nicht.
Der Flötenspieler sagt, und hier musst du meine deutlichen Worte vergeben, dass der Mörder von Guardian Clemens niemand anderer ist als Johannes Pertzeval, dein Vater. Der Mann hat gesehen, wie er den Karren bearbeitet hat, sodass dieser
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