Das Mädchen und die Herzogin
Gnadengesucheingereicht, beim Oberrat in Stuttgart. Deshalb bin ich auch heimlich nach Reutlingen gegangen, ich dachte, in Reutlingen bin ich viel näher bei dir und kann auf die Begnadigung warten. Stattdessen hat der Magistrat jetzt die Ausweisung aller einstigen Aufrührer beschlossen. Nächste Woche bringen uns ein paar diensteifrige Bürger an den Hochrhein, zu den Eidgenossen.»
Jetzt war es Vitus, der mit den Tränen kämpfte.
«Da musste ich dich einfach noch einmal wiedersehen. Einmal wenigstens noch.»
Marie legte ihm die Arme um den Hals und presste ihn an sich.
«Ich hatte immer solche Angst um dich», schluchzte sie erstickt.
Sie umschlangen sich, als wollten sie einander nie wieder loslassen, küssten sich gegenseitig die Tränen aus den nassen Gesichtern, schworen sich wieder und wieder Treue für alle Zeiten. Dann liebten sie sich auf dem weichen, kühlen Waldboden, zärtlich und leidenschaftlich zugleich, bis ihre Körper und ihr Herzschlag eins wurden.
«Jetzt sind wir Mann und Frau», flüsterte Vitus, als er wieder zu Atem kam.
Marie schlug die Augen auf. Der Himmel über ihr war fahl. Es würde bald dämmern.
«Du musst los, nicht wahr?»
Vitus nickte und beobachtete, wie sie ihre Kleidung ordnete.
«Marie?»
«Ja?»
«Von diesem Augenblick habe ich geträumt, seitdem wir keine Kinder mehr sind. Ich weiß jetzt, dass alles gut wird.»
«Ich auch, Vitus.» In der Ferne hörte sie Hufgetrappel,und sie zuckte zusammen. «Da ist noch etwas. Etwas Schlimmes.»
«Sag es mir.» Er zog sie wieder in seine Arme.
«Ich habe mit angesehen, wie der Herzog seinen Stallmeister erstochen hat.»
«Nein!»
Ihr war, als erlebte sie alles noch einmal, was sie jetzt dem entsetzten Geliebten schilderte. Zugleich fiel mit jedem Wort, mit jedem Satz die ganze heillose Last für einen Augenblick von ihren Schultern.
«Ich hab solche Angst, dass der Herzog mich findet», schloss sie ihren Bericht.
Vitus schüttelte den Kopf und schwieg. Dann sagte er: «Der Herzog ist ein Teufel! Trotzdem darfst du keine Angst mehr haben. Das alles ist so lange her. Niemals wird er sich nach einem halben Jahr noch an dein Gesicht erinnern. Es ist doch auch bei Hofe längst Gras über die Sache gewachsen. Nein, Marie, du bist nicht in Gefahr.»
Doch sein Tonfall klang alles andere als überzeugt.
Gut eine Woche später schreckte das Glockengebimmel des Dorfbüttels die Leute aus ihren Häusern. Marie hatte in der Küche des Schultes eben einen Kessel mit Wasser aufgesetzt, als sie den Alten von draußen rufen hörte.
«Holt die Schweine aus dem Wald! Der Herzog ist nicht weit!»
Vor Schreck hätte sie beinahe das ganze Wasser über die Herdstelle gegossen. Sie stürzte hinaus, dem Büttel hinterher, der bereits ein Haus weiter war.
«Was sagt Ihr? Der Herzog ist in der Nähe?»
«Auf Sauhatz im Schönbuch ist er. Der lässt sich sein Vergnügen nicht nehmen, obwohl ihm das Wasser bis zum Halssteht. Hat der Schultes seine Schweine auch draußen bei der Eichelmast?»
Marie nickte. «Ich werd sie gleich holen gehen.»
«Besser so. Das gibt sonst nur Ärger. Übrigens», der Alte verzog den Mund zu einem zahnlosen Grinsen, «hab ich gehört, dass Ulrich sich in jedem Dorf nach einer hübschen blonden Bauersmaid erkundigt – er sucht sich wohl eine neue Braut, jetzt, wo die schöne Ursula außer Landes ist und sich die Herzogin in Urach vor ihm versteckt und verschanzt.»
Marie stand wie vom Donner gerührt. Der Herzog war also auf der Suche nach ihr, und über kurz oder lang würde er sie ausfindig machen. Sie musste fort von hier, sie musste schleunigst aus dem Schönbuch verschwinden. Aber wohin?
In ihrem Kopf dröhnte es, als sie mit einer Handvoll Mägde und Kinder in den Wald lief, um die Schweine heimzutreiben. Von einer Jagdgesellschaft war weit und breit nichts zu sehen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Sie konnte heute bei Böblingen sein und morgen hier, manchmal dauerte so eine Jagd Tage und Wochen.
Die Arbeit ging ihr an diesem Tag fahrig von der Hand, und das Dienstmädchen schimpfte ein ums andere Mal, was man sich mit der neuen Magd für einen Trampel ins Haus geholt habe. Derweil versuchte Marie krampfhaft, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie mochte es drehen und wenden, wie sie wollte: Dass der Herzog hier in der Gegend nach einem blonden Mädchen Ausschau hielt, war sicher kein Zufall. Nein, das galt ganz allein ihr. Und hatte nicht der Wanderschuster gestern berichtet, die Hutten’sche
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