Das Mädchen und die Herzogin
Herbst ihre jüngere Schwester Susanna mit Gefolge in Urach eintraf. Die Dreizehnjährige, mit der sie seit einiger Zeit regelmäßig Briefe austauschte, hatte tatsächlich durchgesetzt, Sabina in ihrer Not zur Seite zu stehen, zumindest bis zu ihrer Vermählung mit Kasimir von Brandenburg-Kulmbach, einem Heerführer und Diplomaten in habsburgischen Diensten. Den hatte Wilhelm ihr, in Absprache mit dem Kaiser, als Gemahl zugewiesen, sobald sie das sechzehnte Lebensjahr vollendet haben würde. Bis dahin allerdings, so hatte das Mädchen Sabina in ihrem letzten Brief geschrieben, würde keine Macht der Welt sie zwingen können, in München zu bleiben. Sabina hatte vorFreude und Rührung geweint, als sie die Schwester, die ihr in ihrer Dickköpfigkeit so ähnlich war, in die Arme schloss.
Ende Oktober erhielt Sabina einen Brief aus Stuttgart:
Gott zum Gruße, Hochverehrte Herzogin! Ich schreibe Euch diese Zeilen in größter Sorge, da sich die Lage nun ernstlich zuspitzt. Der Herzog will Euch in Bälde holen kommen, und von Swinhardus Trummelschläger habe ich erfahren, dass er im Keller des Burgschlosses einen Kerker für Euch einrichten lasse. Der Zwerg ist übrigens jener treue Freund, der Euch einstmals diesen warnenden Brief geschrieben hatte.
Ihr habt nun keine andere Möglichkeit mehr, als baldmöglichst zu fliehen, am besten nach München. Holt Euch Ulrich erst mal nach Stuttgart, seid Ihr verloren. Ich selbst vermag hier nichts mehr für Euch auszurichten, denn nachdem mir der Herzog meine Entlassung verweigert hat, habe ich mich ihm offen zum Feind erklärt und sammle nun die wirtembergische Ritterschaft um mich, um einen Regimentswechsel zu beschleunigen. Die Unterstützung Eurer bairischen Brüder habe ich inzwischen auch.
Dies bedeutet allerdings, dass ich meine Familie in Sicherheit bringen muss. Größte Eile ist geboten, auch für Euch, verehrte Herrin, Euer Leben ist bedrohter denn je!!! Die nächsten Tage schon werde ich nach Zwiefalten aufbrechen, mit den Kindern und Margretha. Es geht ihr zum Glück ein wenig besser. Sie lässt Euch übrigens die besten Wünsche ausrichten und hofft so inständig wie ich, dass Ihr Euch zur Flucht entscheiden möget! Auch Euer Bruder, Herzog Wilhelm, hält es für das Beste.
Ich flehe Euch also an: Macht Euch bereit auf Mitte November. Dann spätestens werd ich von Zwiefalten her bei Euch in Urach eintreffen und Euch holen kommen. Ausreichend Schutz und Geleit werde ich mitbringen, macht Euch also keine
Sorge. Eure herzoglichen Brüder habe ich – verzeiht meine Eigenmächtigkeit – in meine Pläne eingeweiht, und sie wollen auch Euren kaiserlichen Oheim hierüber unterrichten.
Wie gerne hätte ich dies alles mit Euch von Angesicht zu Angesicht besprochen, stünde ich Euch als Schutz persönlich zur Seite. Aber so Gott will, wird alles gut, und ich werde Euch wohlbehalten nach München bringen können. Verlasst bis dahin das Schloss nicht und gebt gut auf Euch und Eure Kinder acht. Schreibt mir nicht zurück, da alle Briefe an mich abgefangen und gelesen werden! So behüte Euch Gott! Euer Euch in unbedingter Treue ergebener Freund Dietrich Speth.
Sabina ließ das Papier sinken. Was sollte das alles noch werden? Würde sie jemals in diesem Leben Ruhe finden? Viel zu kurz waren die unbeschwerten Wochen hier in Urach gewesen, sie hatte sich einfältigen Träumereien hingegeben, wie schön das Leben sein konnte, bevor alles nur noch schlimmer geworden war.
Und so sehr der Gedanke sie mit Unmut und Schrecken erfüllte, letzten Endes hatte Dietrich recht. Es gab keine andere Möglichkeit als eine heimliche Flucht. Die allerdings musste gut vorbereitet sein. Wenn ihr Ulrich dabei nur nicht zuvorkam!
25
Die Ernte war eingebracht, die Ackerflur für den Winter bestellt, und so stand einem Ausflug ins nahe Holzgerlingen nichts im Wege. Für die Dorfbewohner, nicht nur für diejüngeren, war die Kirchweih dort einer der wenigen Höhepunkte im Jahr. Marie allerdings war dieses Mal nur mit halbem Herzen dabei. Stumm stand sie am Dorfbrunnen bei den lachenden und schwatzenden Burschen und Mädchen und wartete, dass das Zeichen zum Aufbruch gegeben würde.
Seit jenem furchtbaren Erlebnis auf der Waldlichtung war zwar viel Zeit vergangen, doch noch immer drehten sich die neuesten Zeitungen, die die Höker, Krämer und Wanderhandwerker ins Dorf brachten, vor allem um Herzog Ulrich, den Mord und dessen Folgen. Marie hatte niemals auch nur mit einem
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