Das Mädchen von San Marco (German Edition)
ein Gesicht Ambrose ziehen würde, wenn ihm das klar wurde, musste Carew lachen – aber das Lachen verging ihm, als ihm ein stechender Schmerz zwischen die Rippen fuhr.
Er beschloss, sich noch ein paar Minuten auszuruhen, und schloss die Augen. »Wohin sind sie – die beiden Männer?«, rief er zu der Frau am Wasser hinüber. »Hast du sie gesehen?«
Als sie nicht antwortete, öffnete er die Augen und sah, dass ihr Blick auf ihn gerichtet war. Aus ihrer kummervollen Miene sprach eine klare, wache Intelligenz.
»Dieser Mann, dieser Bocelli, wollte Euch umbringen«, sagte sie nach einer Weile.
»Der mit dem Lederranzen?«
»Ja, der.«
Bocelli. So hieß er also.
»Der andere hat ihn dazu aufgehetzt, der mit dem gelben Turban. Ich habe sie beobachtet. Er hat Euch von hinten auf den Kopf geschlagen und Ihr seid in den Kanal gefallen. Ihr habt versucht, Maryam vom Springen abzuhalten.«
Er starrte sie an. Dann hatte Ambrose also seinen Tod gewünscht. Das war unglaublich. Die Frage lautete nur – warum?
»Der Mann mit dem gelben Turban? Bist du sicher?«
»Ja. Der stämmige. Er hat Bocelli sein Messer gegeben …« Aus den Falten ihres exotischen, langärmeligen Gewandes zog die Frau einen kleinen Dolch mit einem Griff aus Knochen. »Zum Glück konnte ich es ihm abnehmen«, fügte sie sachlich hinzu, »deshalb hat er dann seinen Stock benutzt.«
Der Dolch, den sie in der ausgestreckten Hand gehalten hatte, damit Carew ihn inspizieren konnte, schien sich durch eine kaum wahrnehmbare Bewegung in Luft aufzulösen.
Carew war sprachlos.
»Wie hast du das gemacht?«
Elena brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Entschuldigt. Reine Gewohnheit.« Und bevor sich Carew noch von seiner Überraschung erholt hatte, lag der Dolch wieder auf ihrer Hand.
»Davon lebe ich.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich ziehe mit einer Gauklertruppe durch die Lande, wir sind nur Frauen.« Sie verstummte. »Aber ich weiß nicht, was jetzt aus uns wird, wo Maryam …« Ihre Stimme brach, doch sie fasste sich wieder und fuhr fort: »Meine Spezialität sind Zauberkunststücke. Illusionen.« Sie lächelte versonnen. »Einmal sind wir in Konstantinopel vor dem Sultan aufgetreten.«
Konstantinopel! Schon wieder musste jemand diesen verhassten Ort erwähnen!
»Ihr solltet Euch etwas für die Wunde am Kopf besorgen«, sagte Elena stirnrunzelnd.
Carews Hand fuhr zu der blutigen Beule auf dem Hinterkopf.
»Immerhin lebe ich noch, oder?«
»Und was ist mit Eurem Ohr passiert?«
Das Ohr. Verdammt! Das hatte er ganz vergessen.
»Ihr könnt mit mir ins Ospedale kommen, wenn Ihr wollt«, bot die Frau an, als habe sie seine Gedanken gelesen. »Dort gibt es Wasser. Ich kann die Wunde auswaschen.«
»Vielen Dank, lieber nicht.« Mühsam richtete sich Carew auf. Auf keinen Fall wollte er sich noch länger mit diesen Frauen abgeben. »Ich wohne gleich um die Ecke … glaube ich wenigstens«, sagte er vage. Ihm war so schwindlig, dass er sich mit einer Hand an der Hauswand abstützen musste. Doch er schaffte es, auf die Beine zu kommen.
»Dann leb wohl. Es tut mir leid um deine Freundin.«
Er wusste, er hätte die Frau nach ihrer Zeit in Konstantinopel ausfragen sollen, Paul zuliebe, aber diese Überlegung wich rasch dem Ärger über das, was Paul mit seinem Ohr angestellt hatte.
Harem. Juwelen. Celia Lamprey. Zur Hölle mit alledem! Eine Woge der Übelkeit überkam ihn. Sollten sie ihn doch alle in Ruhe lassen. Pindar konnte sich allein mit dieser Geschichte herumplagen.
»Leb wohl«, wiederholte er und hob eine zittrige Hand als Abschiedsgruß. Aber die Frau schien ihn nicht zu hören. Einsam und allein saß sie mit ihrem langen, blassen Gesicht am Rand des Kanals, als könne sie immer noch nicht recht glauben, dass ihre große Freundin darin verschwunden war, als hoffe sie, dass sie wieder aus den Fluten auftauchen werde.
Was würde jetzt aus ihr werden?, fragte sich Carew. Aus ihr und den beiden kleinen Mädchen? Würde die Gruppe auseinanderbrechen? Würden die Zauberkunststücke für ihren Lebensunterhalt ausreichen oder würde sie andere Dinge tun müssen, um zu überleben? Er hatte Frauen wie sie in ganz Europa getroffen und wusste nur zu gut, welches Schicksal sie im Zweifelsfall erwartete.
Aber das sollte nicht sein Problem sein. Er würde ein letztes Mal versuchen, Annetta im Kloster wiederzusehen, und in ein paar Tagen wäre er fort. Jenseits des Wassers konnte er in der Ferne schwach die Insel Giudecca erahnen,
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