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Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Titel: Das Mädchen von San Marco (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katie Hickman
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Ihr steht.«
    Der Gedanken an das, was Ambrose getan hatte, erfüllte Carew mit einem so mörderischen Zorn, dass er ihm am liebsten an Ort und Stelle den Hals umgedreht hätte. Aber er verzichtete – wenn auch widerstrebend – auf das Vergnügen, Ambroses große Nase zu Brei zu schlagen und seinen dicken, kahlen Schädel wie Eierschalen zu zerquetschen, denn es bot sich nun die Gelegenheit zu einer anderen, möglicherweise noch schmerzhafteren Strafe.
    Es war klar, was sich in dem Sarg befand. Es konnte nur einen einzigen Grund geben, aus dem Ambrose hinter dem Inhalt her war: Die Kiste enthielt die kleine Meerjungfrau, auf die Ambrose schon so lange spekulierte. Carew wusste, dass er jetzt rasch handeln musste.
    »Bildet Euch nicht ein, dass ich nicht weiß, worauf Ihr aus seid. Ich weiß, was in dem Sarg liegt. Ich werde Euch durch den Fleischwolf drehen«, zischte Carew Ambrose ins Ohr, »aber vorher tue ich etwas, das Euch noch viel mehr schmerzen wird.« Damit wies er auf die Frauen vor der Kirche.
    »Wartet, nein … nicht so schnell … Ihr versteht das nicht. Ihr habt keine Ahnung, wie schwierig es war, dieses … Wesen hierherzubekommen.« Ambrose warf Bocelli, der der Szene zwischen ihm und Carew aufmerksam gefolgt war, einen flehentlichen Blick zu. »Die Meerjungfrau ist echt, das schwöre ich! Es hat noch nie eine wie diese gegeben. Sie ist ein Vermögen wert, John!« Ambrose war das Lächeln vergangen, auf seinem Gesicht wechselten Furcht und Gier. »Sie ist unbezahlbar, ein Vermögen wert. Mehr als der Blaue Stein des Sultans!«
    »Nur darum geht es Euch, nicht wahr? Was wolltet Ihr mit dem toten Kind machen?«
    »Kind? Wovon sprecht Ihr? Es ist eine Missgeburt …«
    »Diese armen Frauen glauben das aber nicht.« Carews Blick ruhte einen Moment lang auf dem trostlosen Häuflein. »Sie wollen ihm ein anständiges Begräbnis geben. Und Ihr, Ambrose, was habt Ihr mit ihm vor? Es in eine Flasche einlegen, wie eine Gurke? Es räuchern wie einen Schinken? Oder vielleicht meint Ihr, in Salz hält es sich am besten? Was würden diese braven Bürger hier wohl davon halten? Ich nehme nicht an, dass sie viel über Eure Kuriositätenkabinette wissen. Ach, ich weiß: Wir fragen sie! Was haltet Ihr davon?«
    »Nicht!«, stieß Ambrose mit letzter Kraft hervor.
    Doch Carew marschierte schon auf die Gruppe zu. Die Aussicht, seinen Schatz zu verlieren, wirkte auf Ambrose wie ein Eimer kaltes Wasser. Er wandte sich an Bocelli, der immer noch verblüfft neben ihm stand. »Seht Euch diesen Mann genau an.«
    Bocelli nickte.
    »Schafft ihn mir vom Hals.«
    Bocelli schien nicht gleich zu verstehen. »Aber, Signore …«
    »Los schon, Mann. Es ist mir gleich, wie Ihr es anstellt. Bringt ihn um, wenn es sein muss.«
    Als Maryam Carew auf sich zukommen sah, konnte sie nicht ahnen, dass er ihr nichts Böses wollte. Sie hatte versucht, dem Wortwechsel zwischen den beiden Männern zu folgen, aber ein Großteil davon hatte sich in einer Sprache abgespielt, die sie nicht verstand.
    Während sie lauschte, drückte sie den kleinen Sarg an sich. Obwohl er nicht mehr wog als ein Sack Getreide, fiel es ihr immer schwerer, ihn mit festem Griff zu halten. Einer ihrer Arme fühlte sich bis zu den Fingerspitzen hinab taub an. Nicht mehr lange, dann würde ihr die Kiste aus den Händen rutschen. Elena zerrte an ihrem Ärmel, wollte ihr etwas sagen, aber Maryam hörte nichts, und als sie etwas sagen wollte, brachte sie kein Wort heraus. In ihren Ohren rauschte es.
    Der campo war voller Menschen. Sie sah die von Angst und Hass verzerrten Gesichter, sah die Bewegung der Lippen, die Sehnen an den gereckten Hälsen. Und gleichzeitig fühlte sie sich wie in eine große Stille eingehüllt.
    Die Stille war auch das Erste gewesen, das Maryam aufgefallen war, als sie die Lagune erreicht hatten. Nach so vielen Wochen auf dem offenen Meer lag das Wasser der Lagune wie farbiges Glas vor ihnen. Die Ufer der Inseln waren so flach, dass sie wie langgezogene Flöße aussahen. Kein Windhauch regte sich. Die Segel hingen nutzlos an den Masten, das einzige Geräusch an Bord war das leise Klatschen der Ruder.
    Die Stadt war zum Greifen nahe, da starb das Kind. Es geschah sehr früh am Morgen, während eines Sonnenaufgangs von so exquisiter Schönheit, dass Maryam, die mit dem schlafenden Kind im Arm wie verzaubert an Deck stand, meinte, sie habe noch nie etwas so Wunderbares gesehen. Als sie den Blick senkte, sah sie, dass das Kind aufgewacht war.

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