Das Mädchen von San Marco (German Edition)
deren Kirchen und Lustgärten das Licht auffingen. Ob Constanza wohl noch dort war? Würde er sie je wiedersehen? Zahlreiche Gondeln und Kähne fuhren über den belebten Kanal, das Leben ging weiter, als sei nichts geschehen.
Schweigend wandte sich Carew ab und taumelte durch die menschenleere Gasse zurück in Richtung Kirche. Die Stimme der Frau holte ihn ein.
»Kyrie!« , rief sie ihm nach, »dieser Bocelli …«
Widerstrebend blieb Carew stehen. »Was ist mit ihm?« Er war noch nie im Leben so müde gewesen.
»Wisst Ihr, wo ich ihn finden kann?«
»Nach allem, was du mir erzählt hast, würde ich ihm lieber aus dem Weg gehen, wenn ich du wäre.«
»Er ist ein Lügner und ein Dieb.« Carew musste sich anstrengen, ihre Worte zu verstehen.
»Unter anderem«, erwiderte er trocken.
Aber Elena hing ihren eigenen Gedanken nach. »Die Mutter des Säuglings –«
»Was ist mit ihr?«, unterbrach sie Carew ungeduldig.
»Er hat ihr etwas gestohlen, das weiß ich genau«, stieß sie empört hervor. »Es muss Bocelli gewesen sein.«
Carew verstand nicht recht, was sie ihm mitteilen wollte, und schwieg.
»Sie kann sich nicht mehr daran erinnern, was es war, aber sie hört nicht auf, danach zu suchen.« Elena schüttelte ratlos den Kopf. »Sie hat einen Namen dafür, aber ich kann nichts damit anfangen.«
»Ich auch nicht«, murmelte Carew vor sich hin.
Entschlossen drehte er sich um und ging. Annetta wiederzusehen, das war das Einzige, was er noch wollte. Ihr Gesicht ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Sie finden – und dieser ganzen Hässlichkeit entkommen.
»Signore«, hörte er Elenas Stimme schon weit hinter sich, »bitte, Signore, bleibt doch noch einen Augenblick stehen …«
Aber der Schmerz in ihren Augen war Carew plötzlich unerträglich. Er tat so, als habe er sie nicht gehört, und beschleunigte die Schritte.
Kapitel 34
Zuanne Memmo legte einen Samtbeutel mitten auf den runden Tisch.
»Meine Dame, meine Herren …« Er blickte sich Aufmerksamkeit heischend in dem achteckigen Raum um, in dem sich die maskierten Spieler zum ersten Mal eingefunden hatten. Als er sicher sein konnte, dass ihm alle zuhörten, kippte er den Inhalt des Beutels auf die Tischplatte. Klappernd rollte ein runder Gegenstand von unbestimmbarer Farbe auf die Platte.
Im Raum herrschte atemloses Schweigen, während aller Augen auf den Hauptgewinn gerichtet waren. Paul Pindar spürte, wie sich vor Aufregung seine Nackenhaare sträubten.
So lange hatte er darauf gewartet! Er sah zu, wie Memmo das Prunkstück an sich nahm und auf der leicht zitternden Handfläche wog. Ohne ein Wort ließ er die Versammelten den Vorgeschmack auf das Kommende genießen.
»Meine Dame, meine Herren«, wiederholte Memmo leise, während sein Blick von einem zum anderen wanderte, »ich präsentiere: den Blauen Stein des Sultans.«
Ein unterdrücktes Murmeln erhob sich im Raum. Der Diamant funkelte im Widerschein von hundert Kerzen und sandte eigentümliche Lichtstrahlen aus, eisfarben, mysteriös wie das Mondlicht, aber so klar, so rein, dass das Licht von einer tief im Stein verborgenen Quelle herzurühren schien. Für Pauls Empfinden leuchtete er doppelt so hell wie beim ersten Mal.
In diesem Moment betrat ein Diener den Raum und flüsterte Memmo etwas zu.
»Ich bitte um Verzeihung, meine Herrschaften«, sagte dieser, »es wird nicht lange dauern.«
Als Memmo fort war, legte sich ein angespanntes Schweigen über den Raum. Sechs Personen waren zum Spiel zugelassen worden, fünf Männer und, zu Pauls nicht gelinder Überraschung, eine Frau. Alle waren sorgfältig maskiert. Ihrer aller Gewinne beim primero sowie Wertgegenstände oder Bargeld im Wert von zehntausend Dukaten, die Memmo im Voraus von jedem Einzelnen verlangt hatte, dienten als Sicherheit für die enormen Verluste, die bis auf einen Spieler, den Gewinner, alle in dieser Nacht zu gewärtigen hatten. Zuanne Memmo ging keine Risiken ein.
Die maskierten Gestalten, die bisher starr und stumm wie Wachsfiguren am Tisch gesessen hatten, erwachten langsam wieder zum Leben. Einander zugeneigt wie Verschwörer, tauschten sie geflüsterte Bemerkungen aus. Nur Paul Pindar, der wie üblich schwarz gekleidet war, nahm nicht an der Unterhaltung teil. Er beobachtete die Runde, um seine Gegner im kommenden Spiel besser einschätzen zu können.
Dann meldete sich der Mann rechts neben Paul zu Wort. »Bei allen Heiligen«, sagte er, »habt Ihr jemals so etwas gesehen? Dreihundert Karat!«
Paul
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