Das Mädchen von San Marco (German Edition)
musterte seinen Nachbarn durch die schmalen Augenschlitze der Gesichtsmaske. An einem Daumen steckte ein schwerer goldener Siegelring. Demnach ein älterer Mann, und, nach der Stimme zu urteilen, ein Patrizier. Ein Liebhaber schöner Dinge. Die Qualität seiner Kleidung – das feine Leinen seines Untergewands war mit Goldfäden durchwirkt – verriet seine adelige Herkunft. Ein Aristokrat, der das über Generationen erworbene Vermögen einer alten venezianischen Familie nach Belieben an Spieltischen verschleudern konnte.
»Dreihundert Karat? Der Blaue Stein des Sultans hat dreihundertundzwanzig Karat. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie er gewogen wurde. Ein vollkommener Diamant, makellos, unfassbar«, ließ sich ein zweiter Spieler vernehmen, der in Ermangelung weiterer Worte nur noch den Kopf schütteln konnte.
»Aber woher Memmo ihn bekommen hat, das wüsste ich gern«, warf ein dritter Spieler ein, der Paul gegenüber auf der anderen Seite des Tisches betont lässig auf seinem Stuhl fläzte.
»Eine Spielschuld natürlich, wie wäre er sonst an so etwas Kostbares gelangt?«, erwiderte der erste Spieler im Brustton der Überzeugung. »Irgendein armer Narr hat ihn am Kartentisch verloren.«
»Den Blauen Stein des Sultans beim Kartenspiel verloren?«, entgegnete der Mann, der Paul gegenübersaß. Er lachte trocken. »Dann muss er verdammtes Pech gehabt haben.«
Seine Stimmlage und sein schmaler Körperbau deuteten darauf hin, dass er viel jünger als die ersten beiden war. Paul hatte ihn durch die Augenschlitze genau im Blickfeld. Auch der jüngere Spieler war unverkennbar ein Aristokrat, seine Ausstattung und sein arroganter Ton ließen keinen anderen Schluss zu. Paul kannte diese Sorte Edelmann nur zu gut, denn er hatte häufig gegen sie gespielt: junge Männer, noch fast Jugendliche, die leichtsinnig ein Vermögen aufs Spiel setzten, das sie noch nicht einmal geerbt hatten.
»Er hat Recht, woher sollen wir wissen, dass der Stein nicht gestohlen ist?«, wandte der zweite Spieler ein.
»Pah! Was spielt das für eine Rolle? Ich wüsste lieber, warum der Cavaliere ihn nicht einfach behält?« Das war die Stimme der einzigen Frau in der Runde, einer Kurtisane mit dem tiefen Dekolleté ihres Berufsstandes und der auffälligen Frisur, die ihn ebenfalls kennzeichnete – zwei Haarrollen an den Schläfen. Paul hörte genau hin und fragte sich, ob er die Frau bei Constanza wohl einmal getroffen hatte. Aber die Maske dämpfte ihre Stimme und er konnte sie nicht zuordnen. Sie war ihm so fremd wie die anderen drei am Tisch.
»Was, Zuanne Memmo sollte den Blauen Stein des Sultans behalten?«, entgegnete der Mann mit dem Siegelring verächtlich. »Was könnte ein Mann wie er wohl damit anfangen? Der Stein bedeutet ihm nichts. Er hat keinen Sinn für Schönheit. Geld ist das Einzige, was ihn interessiert.«
»Aber den Blauen Stein besitzen … Er ist ein Vermögen wert!« Die Stimme der Kurtisane klang gepresst, als bekäme sie in der stickigen Atmosphäre des kleinen Raums keine Luft.
»Und was würde der Cavaliere damit anfangen?« Der alte Edelmann spuckte die Worte förmlich aus. »Der Stein als solcher hat keinen Wert für ihn.« Er lachte höhnisch auf. »Genau darum geht es, Madame: Der Blaue Stein des Sultans ist nichts wert – und er ist gleichzeitig von unschätzbarem Wert.«
»Er ist wertlos? Ist es das, was Ihr sagen wollt?« Der junge Mann lehnte sich zurück und stemmte die Füße gegen den Tisch. »Nicht, dass es mich kümmert«, fügte er prahlerisch hinzu, »ich bin hier, um Karten zu spielen, nicht wegen eines Stückchens farbigem Glas.«
Paul spürte am Tisch die leichten Vibrationen, die der junge Mann verursachte, indem er unablässig mit einem Fuß gegen den anderen stieß. Nicht ganz so unbekümmert, wie er tut, dachte Paul. Man erkannte sofort, dass er eine sorgfältig einstudierte Rolle spielte. Unter seiner scheinbaren Gelassenheit war er gespannt wie eine Sprungfeder, voller nervöser Energie. Er würde Fehler machen.
»Nein, mein Herr«, erwiderte der ältere Mann kühl. »Ich wollte nicht andeuten, dass der Stein wertlos sei. Er ist unbezahlbar.«
»Was dieser werte Herr sagen will, Madame, ist, dass der Diamant nur so viel wert ist, wie jemand für ihn zu geben bereit ist.« Pauls Nachbar zur Linken sprach mit leichtem Akzent und musste, wie Paul an seiner relativ nüchternen Kleidung erkannte, ein Kaufmann sein wie er selbst. An die Kurtisane gewandt, die links neben ihm
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