Das Mädchen von San Marco (German Edition)
ein. Eine schmale Brücke führte über einen Kanal, und Maryam stellte fest, dass sie hier noch nie gewesen war. Sie stand plötzlich vor einer Hauswand. Ging es rechts oder links richtig weiter? Sie zögerte für einen Moment und entschied sich für den portego zu ihrer Linken. Nach wenigen Metern hörte auch dieser Weg auf.
Vor ihr lag eine ausgedehnte Wasserfläche. Hinter sich hörte sie das Keuchen ihrer Verfolger. Es gab keinen Ausweg mehr, keine Fluchtmöglichkeit. Als sie sich umdrehte, sah sie in Bocellis Hand etwas Metallisches aufblitzen.
Da wusste sie, was ihr bevorstand. Sie würde kämpfen müssen. Hatten die Männer Hunde mitgebracht? Irgendwo kläfften Hunde. Maryam hatte einen seltsamen Geschmack im Mund und glaubte einen Moment lang, sie werde sich übergeben müssen. Sie hatte das Neugeborene in seinem kurzen, mühseligen Leben nicht retten können. Aber jetzt würde sie es retten, und wenn es das Letzte war, was sie tat. Sie würde es nicht diesen Männern ausliefern.
Was immer geschah, sie durften ihr dieses Kind nicht entreißen. Das hatte sie versprochen.
Ich schwöre es.
Bei meinem Leben.
Aber als sich Maryam umdrehte, begriff sie, dass sie keine Kraft mehr zum Kämpfen hatte. In der nächsten Sekunde wusste sie, was sie zu tun hatte. Mit dem kleinen Sarg in den Armen trat sie dicht ans Wasser und sprang.
Maryam und das Kind sanken gemeinsam in die Tiefe und wurden vom grünlichen Wasser verschlungen. Nichts konnte sie mehr trennen.
Kapitel 33
Als Carew zu sich kam, läuteten Glocken. Er lag auf dem Pflaster einer feuchtkalten Sackgasse, den Geruch von altem Urin in der Nase. Am Hinterkopf verspürte er ein dumpfes, beunruhigendes Pochen.
Ein paar Sekunden lang wusste er nicht, wo er war. Er setzte sich auf und griff sich an den Schädel. Unter den verklebten Haaren hatte sich eine eiförmige Beule gebildet. Irgendwo in der Nähe weinte jemand.
Wenige Meter entfernt stand eine Frau am Rand des Canale della Guidecca und starrte ins Wasser. Als sie hörte, dass er sich bewegte, drehte sie sich zu ihm um. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
Carew wollte etwas sagen, aber er stellte fest, dass er kein Wort herausbrachte. Die beiden sahen sich wortlos an, wie Überlebende eines Schiffbruchs. Die Frau sank zu Boden und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Carew stemmte sich in eine halb sitzende Position hoch. Er spürte, dass er bis auf die Haut durchnässt war. In seinen Ohren klingelte es.
Allmählich kehrte die Erinnerung zurück: die Szene auf dem campo, die Frauen, die sich vor der Kirche zusammendrängten, das unerwartete Auftauchen von Ambrose und dessen Begleiter, der anscheinend für ihn arbeitete. Und dann die große, hässliche Frau, die er zunächst für einen Mann gehalten hatte, mit dem winzigen Sarg in den Armen, die fortlief …
»Was ist mit ihnen passiert?«, rief er der zusammengesunkenen Frau zu, aber sie schien ihn nicht zu hören.
Carew richtete sich mühsam ein Stück weiter auf und ächzte vor Schmerz. Nicht nur sein Kopf brummte, auch die Rippen taten ihm weh, als hätte jemand gegen seinen Brustkorb getreten.
»Wie heißt du?«
Der Frau liefen die Tränen übers Gesicht. » To onoma mou inai Elena. Elena.«
»Elena.« Er erinnerte sich dunkel an die beiden Kinder, zwei Mädchen, die sie auf dem campo bei sich gehabt hatte. »Wo sind deine beiden Kleinen?«
»Ich habe sie ins Ospedale geschickt«, erwiderte die Frau matt, »jemand muss es der Mutter sagen.«
»Der Mutter?«
»Der Mutter des toten Kindes.«
Das hatte Carew erst einmal zu verdauen.
»Die Mutter kann nicht gehen … ihre Beine …« Elena konnte vor Erschöpfung kaum weitersprechen. »Sie erinnert sich jetzt wieder an manches … aber nicht an alles.«
Grundgütiger! Carew schloss die Augen. Wovon sprach die Frau? Und was zum Teufel machte er hier? So, sie haben dich also halbtot in einer gottverlassenen Sackgasse liegen gelassen, hörte er im Geiste Pauls spöttische Stimme. Welch eine Überraschung.
Er würde sich schnellstens davonmachen. Was gingen ihn diese Frauen mit ihrem toten Kind an? Gar nichts. Er war auf dem Rückweg zum Kloster gewesen. Und dort wäre er jetzt bereits, hätte ihm Ambrose Annettas Botschaft ausgerichtet. Er versuchte aufzustehen, aber der Schmerz packte ihn und er sank aufstöhnend wieder in sich zusammen.
Ambrose! Ambrose und seine verdammte Meerjungfrau! Na, immerhin würde er sie jetzt nicht in die Finger bekommen. Beim Gedanken daran, was für
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