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Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Das Mädchen von San Marco (German Edition)

Titel: Das Mädchen von San Marco (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katie Hickman
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ein geflügeltes Insekt über den zarten Blütenblättern, das aussah wie ein winziger, mit Edelsteinen besetzter Schmetterling. Auf einem dritten wölbte sich der bis ins kleinste Härchen naturgetreu gemalte Rücken einer winzigen Raupe.
    »Sie wirken so lebendig! Es ist, als könnte ich sie pflücken.« Annetta blickte begeistert auf. »Aber sind das nicht Frühlingsblumen, suora? «
    »Ja, da habt Ihr Recht. Ich habe sie schon vor vielen Monaten gemalt. Ein englischer Sammler, ein Kaufmann, hat sie bei mir in Auftrag gegeben. Sein Agent hat mich besucht, als er vor einigen Jahren in Venedig war. Jetzt hält er sich wieder dort auf. Er hat mir vor einigen Tagen einen Besuch abgestattet und mich um ein weiteres Gemälde ersucht. Er will sie heute abholen. Ich war gerade dabei, ihnen den letzten Schliff zu geben, als Ihr kamt.«
    Suor Veronica nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken. Sie sah auf einmal viel jünger aus, obwohl man ihren Augen die Anstrengung anmerkte.
    » Suora, Annunciata hatte wahrhaftig Recht, Ihr verrichtet hier das Werk Gottes.« Annettas Worte kamen von Herzen, aber Suor Veronica blickte jäh auf.
    »Wir verrichten alle die Arbeit, die uns möglich ist«, sagte sie und setzte sich die Brille wieder auf die Nase. »Und ich für meinen Teil glaube, dass ich hier tatsächlich Gottes Werk verrichte, was auch immer einige aus unseren Reihen dazu sagen mögen.«
    »Aber suora, ich wollte nicht –«
    »Einige arbeiten im Garten und bauen die Pflanzen an, andere arbeiten im Herbarium, um sie zu sortieren und zu trocknen. Und ich … ich male sie.« Sie funkelte Annetta über die Brille hinweg an. »Es ist keine Eitelkeit, gleichgültig, was sie behauptet –«
    »Wartet, suora, bitte – wer behauptet was?« Annetta schaute die Malerin verwirrt an.
    Aber Veronica beachtete sie nicht. »Es ist das Werk Gottes, sage ich Euch, und ich lasse nicht zu, dass irgendjemand etwas anderes behauptet.«
    »Natürlich«, bestätigte Annetta, aber die aufgebrachte Nonne war nicht mehr zu besänftigen.
    Oben auf der Kanzel war eine Sammlung kleiner Töpfe und Phiolen aufgereiht, sie enthielten die Mineralpigmente, die für die Herstellung der Farben benötigt wurden. Suor Veronica griff nach einem Fläschchen, aber in ihrer Aufregung ließ sie es fallen. Es zerbrach und rotes Pulver, gemahlener Zinnober, verteilte sich über den ganzen Boden. Es sah aus wie ein großer Blutfleck.
    »Oh, jetzt schaut Euch an, was Ihr angerichtet habt«, schrie Veronica und scheuchte Annetta mit der Hand weg. »Fort mit Euch, geht weg, geht!«
    »Aber … ich soll Euch doch helfen.«
    »Ihr könnt mir nicht helfen, niemand kann das.« Suor Veronica kroch auf Händen und Knien über den Fußboden und sammelte Glasscherben auf.
    »Bitte, lasst mich das tun.« Annetta kniete sich neben sie. »Ihr werdet Euch noch schneiden, wenn Ihr nicht aufpasst.«
    »Nein, ich mache das.« Suor Veronica richtete sich auf und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Geht auf die Galerie«, verlangte sie, wobei ihre Stimme wieder den trockenen Tonfall von vorher annahm, und deutete in Richtung der kleinen Wendeltreppe. »Mein Besucher wird bald hier sein, haltet nach ihm Ausschau. Ich werde in der Zwischenzeit diese Unordnung beseitigen.«
    Annetta stieg die Wendeltreppe hinauf zur Galerie. Obwohl es den Nonnen im Kloster verboten war, Bücher zu besitzen, gab es hier jede Menge. Annetta konnte sich nicht erinnern, je so viele an einem einzigen Ort gesehen zu haben. Einige Bände waren alt, andere sahen so aus, als ob sie neu gebunden worden wären – ihre Einbände bestanden aus hellem Kalbsleder und die Buchrücken waren mit Gold verziert.
    Annetta neigte den Kopf, um die Titel zu lesen, während sie langsam an den Regalen vorbeiging. De Historia Stirpium , Der Garten der Gesundheit , Herbarum vivae eicones . Sie konnte die fremd klingenden Wörter nur schwer entziffern und wunderte sich, wie die Bücher hierhergekommen sein mochten. Vielleicht brachten die reichen Männer, die Suor Veronicas Bilder in Auftrag gaben, sie ihr als Geschenke mit. Waren sie wertvoll? Sie wusste es nicht. Obwohl man ihr das Lesen beigebracht hatte, waren ihr Bücher nie besonders wichtig gewesen, und die, die sie gesehen hatte, waren für gewöhnlich auf Lateinisch verfasst, das sie nicht sehr gut beherrschte.
    Unter sich sah sie durch das Geländer hindurch Veronica, die immer noch zwischen der verschütteten Farbe und den Glasscherben kniete.

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