Das Mädchen von San Marco (German Edition)
Sie tupfte den Boden mit einem Tuch ab, und ihre Hände und ein Zipfel ihres Gewandes waren blutrot von den Pigmenten. Annetta betrachtete sie nachdenklich. Was hatte es mit ihrem Ausbruch auf sich gehabt? Die Nonne war ganz in ihre Arbeit vertieft gewesen, als sie, Annetta, vorhin den Raum betreten hatte. Kein Wunder also, dass sie bei dem Gedanken, jemand könne versuchen, ihre Malerei zu unterbinden, so wütend wurde. Andererseits, überlegte Annetta, war Malen wirklich eine ungewöhnliche Beschäftigung für eine Nonne. Im Harem, einer Welt, die wie das Kloster ausschließlich von Frauen bevölkert und geleitet wurde, waren zwar deren Körper in der Bewegung eingeschränkt, aber ihr Geist war frei. Im Kloster war das anders. Sie dachte an Suor Purificacion und Suor Bonifacia, an die unbekannte Nonne und ihren Liebhaber, an Suor Annunciata in ihrem Garten und nun an Suor Veronica mit den Bildnissen. Es gab hier Strömungen und Druckmittel, Rivalitäten und Ehrgeiz, und sogar Annetta mit ihrer beträchtlichen Fähigkeit, durch solch trübe Gewässer zu navigieren, begann gerade erst, die Zusammenhänge zu erfassen.
Genau in diesem Moment hörte sie den vertrauten Ruf eines Bootsführers. Ihr fiel ein, dass sie eigentlich nach dem Bevollmächtigten des Sammlers Ausschau halten sollte, und trat ans Fenster.
Das Sonnenlicht flutete so stark durch das Glas herein, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Das Wasser der Lagune war blassgrün. Nicht weit entfernt erkannte sie verschwommen die Gärten und Kuppeln von San Giorgio Maggiore und jenseits davon die Stadt Venedig, wie eine rosa-goldene Wolke am Horizont. Alle möglichen Schiffe – Handelsgaleeren und kleinere Jollen – befuhren die verkehrsreichen Gewässer.
Bald konnte Annetta Einzelheiten ausmachen. Ein kleines Boot hielt auf das Kloster zu, in dem zwei Männer saßen. Einer war alt und untersetzt und trug einen gelben Turban auf dem Kopf. Der andere …
Annetta starrte auf das Boot. Heilige Mutter Gottes! Der andere war – nein, das konnte doch nicht sein! Bestimmt spielten ihre Augen ihr einen Streich. Nicht schon wieder er! Bei allen Heiligen, das war unmöglich. Aber es war doch möglich: Dasselbe schulterlange, lockige braune Haar, dieselben Augen, wie zwei kalte Steine, sogar dieselbe Körperhaltung. Ein Bein hatte er auf den Bootsrand gestellt, in genau derselben Haltung, in der sie ihn beim ersten Mal, am Tag des Hochzeitsbesuchs, durch das Fernglas aus dem Fenster des Dormitoriums gesehen hatte.
Es war wieder der Eindringling.
Kapitel 17
Am Morgen nach ihrer Nacht in Zuanne Memmos ridotto fuhr Carew wieder zum Kloster. Nur dieses Mal, mit Ambrose Jones im Schlepptau, tat er es in Erwartung einer ganz anderen Art von Abenteuer.
Das blassgrüne Wasser der Lagune funkelte so grell im Sonnenlicht, dass es ihm in den Augen schmerzte, wenn er daraufblickte. Deshalb sah er lieber zu, wie die Mauern des Klostergartens vor ihnen emporwuchsen. Hier und da konnte er die Kronen der Pappeln und Zitrusbäume erkennen, weiter hinten die gerade Linie der Lindenallee, und es fiel ihm leicht, sich den berühmten Kräutergarten dazuzudenken. In den vergangenen Wochen hatte er das Gelände schließlich so gut kennengelernt, dass er sich darin mit verbundenen Augen zurechtgefunden hätte.
Carew bewegte sich unruhig. Der Gedanke an seine Abenteuer im Kloster hätte ihn eigentlich amüsieren müssen, aber dem war nicht so. In Wahrheit bereitete ihm der Gedanke an die Nonne, die er beglückt hatte, keine Freude mehr, seitdem die Tat vollbracht war. Sie war dankbar gewesen, das verstand sich von selbst. Und auch gefügig, sogar etwas zu sehr für seinen Geschmack. Sie hatten es auf sein Drängen hin direkt unter der Nase der jüngeren Nonnen getan, sozusagen in ihrem Dormitorium, und doch rief die Erinnerung daran trotz der zusätzlichen Würze nicht die leiseste Erregung hervor, keinen wohligen Schauer. Stattdessen war er sich nur eines schwachen Gefühls der Unzufriedenheit bewusst, das ihn mehr und mehr durchdrang, ohne dass er hätte sagen können, wo es herkam. War es Langeweile? Ekel? Carew starrte schlecht gelaunt in die grünen Tiefen der Lagune. Wen kümmerte das überhaupt? Ihn nicht. Er würde das tun, wozu er sich bereit erklärt hatte, er würde Ambrose dabei helfen, Erkundigungen über die Haremsdame einzuziehen, und dann war er fertig – mit Pindar, mit Ambrose, mit Zuanne Memmo und Francesco, sogar mit Constanza, fertig mit der ganzen
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