Das Mädchen von San Marco (German Edition)
wirklich?« Suor Annunciata neigte verständnisvoll den Kopf. »Ja, natürlich, das arme Ding, sie ist schon sehr alt und, nun ja …« Annunciata tippte sich vielsagend mit dem Finger an die Stirn, »Ihr wisst schon«.
»Nein, suora, ich wollte sagen, sie schien bei allerbester Gesundheit zu sein«, wiederholte Annetta ein wenig lauter. »Und nicht annähernd so einfältig, wie anscheinend jede hier denkt«, murmelte sie vor sich hin.
»Ach, wirklich?« Annunciata schüttelte den Kopf. »Nun, in ihrem Alter – kann man nichts anderes erwarten.«
»Nein, nein, suora, was ich sagte, war …«, begann Annetta erneut, aber Suor Annunciata wieselte schon emsig voraus
und war offensichtlich begeistert, dass ihr eine neue Helferin zugeteilt worden war.
»Ihr seid also diejenige, die vor vielen Jahren als conversa zu uns gekommen ist, stimmt das?« Suor Annunciata strahlte Annetta an und entblößte dabei große und leicht vorstehende Vorderzähne. »Demnach habt Ihr sicherlich schon einmal in unserem Garten ausgeholfen, oder?«
»Ja, suora« , gab Annetta frostig zurück. Sie war – wie alle converse – tatsächlich häufig gezwungen gewesen, im Garten zu arbeiten, und daran mochte sie lieber gar nicht erinnert werden.
»Wunderbar, wunderbar, und jetzt folgt mir.«
Sie erreichten den Küchengarten, wo ein Berg großer und kleiner Kürbisse an der Mauer aufgetürmt war.
»Nur einen Augenblick, suora, ich habe ein kleines Problem …« Annetta hob mit einer Hand ihre Röcke ein Stück hoch und enthüllte zum ersten Mal die kleinen bestickten Pantoffeln.
»Hmm, ich verstehe.« Annunciata betrachtete skeptisch die samtene Fußbekleidung, die Spitze an Annettas Halsausschnitt, den kleinen bestickten Samtbeutel, den sie immer an der Taille trug. »Ach du liebe Zeit, das geht überhaupt nicht. Wie ich sehe, müssen wir für Euch anständige Gartenkleider besorgen, suora. «
»Doch, es wird gehen, wirklich!« Mit gerafften Röcken trippelte Annetta unsicher weiter. Sie hätte leicht ein Paar einfache Schuhe aus ihrer Truhe holen können, die für draußen geeignet waren, aber sie war fest entschlossen, diese Einteilung zur Gartenarbeit für sich selbst wie auch für alle anderen so unangenehm wie nur möglich zu machen.
»Schon gut«, sagte Annunciata freundlich, »vielleicht lassen wir das mit dem Garten für heute. Suor Veronica ist im Herbarium, ich bin sicher, sie kann Euch etwas zu tun geben. Lasst uns schauen, ob wir sie finden.«
Die Arbeit im Herbarium des Klosters wurde schon immer als etwas Besonderes erachtet, doch obwohl Annetta wusste, wo es lag, konnte sie sich nicht erinnern, es je aufgesucht zu haben. Es war ein langes, niedriges Gebäude am hinteren Ende des Küchenhofes, wo die Arzneipflanzen aus dem Kräutergarten des Klosters getrocknet und sortiert wurden. Der Boden des Herbariums bestand aus gestampfter Erde, die Luft darin war kühl und roch angenehm aromatisch nach Lavendel und Rosmarin, Kamille und Gartenraute.
Mehrere der Nonnen waren schon damit beschäftigt, die verschiedenen Kräuter und Blumen zu sortieren. Manche hängten sie büschelweise an die Sparren, andere wiederum breiteten sie auf Papierbögen auf den schmalen Regalen entlang der Wände aus. Eine zweite Gruppe zerlegte vorsichtig die fertig getrockneten Pflanzen in ihre Bestandteile. Einige entnahmen die Samen aus Hülsen und Blütenköpfen, andere sammelten die noch geschlossenen Knospen oder lasen die Blumenblätter, Stiele und sogar die Zwiebeln und Wurzeln der verschiedenen Pflanzen aus, während einer weiteren Gruppe die Aufgabe übertragen worden war, sie zu kennzeichnen und zu verpacken. Sie legten jedes Päckchen in eine Holzkiste, die zum Verkauf an die Kräuterhändler und Apotheker des Veneto bestimmt waren.
Während Suor Annunciata Annetta herumführte, blieb sie gelegentlich stehen, um ein Blatt oder eine Knospe von einem der herabhängenden Pflanzenbüschel abzuzupfen und zwischen den Fingern zu rollen. Dann schnupperte sie daran. Manchmal nickte sie mit offenkundiger Genugtuung, bisweilen schnalzte sie missbilligend mit der Zunge und gab ein Zeichen, das Büschel abzunehmen und fortzuwerfen.
Die Nonnen folgten ihren Anweisungen eifrig und gründlich. Die meisten Frauen waren converse, wie Annetta feststellte, aber es waren auch etliche Chornonnen darunter, die die gleiche schlichte Tracht und die gleichen Holzpantinen wie die converse trugen. Alle verrichteten ihre Tätigkeit schweigend und auf eine
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