Das Mädchen von San Marco (German Edition)
äußerte sie vorsichtig.
Endlich blickte Suor Veronica von ihrer Arbeit auf. Sie legte die Feder hin und schaute Annetta über den Rand ihrer Brille prüfend an.
»Ich kenne Euch. Ihr seid die ehemalige conversa, die jetzt in den Orden aufgenommen werden soll. Die das Schiffsunglück überlebt und viele Jahre im Lande der Osmanen gelebt hat.«
Normalerweise wehrte Annetta instinktiv jedes Gespräch über ihr früheres Leben ab, doch Suor Veronicas Direktheit überrumpelte sie.
»Ja«, antwortete sie deshalb und fragte dann: »Darf ich sehen, was Ihr da macht?«
»Ja, natürlich. Vieles von dem, was ich male, ist aus dem Osmanischen Reich zu uns gekommen.«
Als sich Annetta der Kanzel näherte, sah sie sofort, dass Veronica nicht geschrieben, sondern gemalt hatte. Es war keine Schreibfeder, die sie zwischen den Fingern hielt, sondern ein Pinsel. Auf dem schrägen Pult lagen zwei gleich große Bögen Papier, und auf beide waren zwei Blumen gemalt. Ihre langen, spindelartigen Stiele nahmen den größten Teil des Blattes ein. Ganz oben an der Spitze der Stiele balancierten die Blüten wie Turbane, die vom Regen grotesk aufgequollen waren. Die Blütenblätter erglänzten in einem sprühenden Feuerwerk von Farben, in dem Karmesin und Zinnober, Orange und Magenta, leuchtendes Rosarot und zarte Korallentöne überwogen.
Die erste Blume, auf die Annettas Blick fiel, war fast vollständig gerundet, wie eine Schale, und ihre Blüte war geöffnet, sodass die feinen Staubgefäße freigelegt waren. Ihr Pendant war sogar noch zarter, mit dünnen, beinahe zerbrechlich wirkenden Blütenblättern, wie eine Mandoline geformt. Veronica hatte sie gezeichnet, als ob sie im Morgengrauen gepflückt worden wäre. Die Blütenblätter waren noch leicht zusammengerollt und lagen übereinander.
»Die sind wunderschön, suora! «, rief Annetta erstaunt aus.
Suor Veronica schien sich über das Lob zu freuen.
»Erkennt Ihr sie?«
»Natürlich.« Annetta nickte. »In den Gärten des Sultans gab es viele solcher Blumen, auch wenn ich nie erfahren habe, wie sie heißen.«
»Sie heißen Tulpen.« Annettas Interesse erfreute die Schwester. »Und Ihr habt ganz Recht, wie viele andere der schönsten Pflanzen aus unserem Garten kamen auch diese aus dem Osmanischen Reich.«
»Suor Bonifacia hat mir ein wenig davon erzählt«, sagte Annetta und dachte an das Gespräch mit der Äbtissin zurück. »Ihr Bruder war der Erste, der sie hergebracht hat, nicht wahr?«
»Ganz recht, so hat es mit diesem Garten angefangen. Aber mittlerweile bringen unsere Kaufleute seit vielen, vielen Jahren neue Pflanzen nach Venedig. Einige der schönsten stammen sicherlich aus dem Land der Osmanen – Hyazinthen, Anemonen, Kaiserkronen –, aber auch aus Indien, China, von den Gewürzinseln und aus der Neuen Welt erhalten wir Pflanzen«, sagte Veronica und wischte den Pinsel an einem alten Tuch ab, »gewissermaßen aus allen Ecken der Welt. Anfänglich galten sie als Kuriositäten, aber nun sind sie sehr begehrt. Viele reiche Männer wollen zum eigenen Ruhm und als Zeichen ihrer Größe eigene Gärten anlegen. Andere, wie der Graf, der erste Gönner unseres Klosters und zugleich Bonifacias Bruder, wollten einen botanischen Garten anlegen, wie es sie in Pisa und Padua gibt.«
Annetta wandte sich wieder den Bildern zu.
»Diese gefällt mir.« Sie zeigte auf die vierte und letzte Tulpe, in Rosarot und Weiß gehalten. Die Unterseiten der Blütenblätter wiesen dicht am Pflanzenstiel ein zart silbriges Grün auf.
»Alle sind wertvoll. Aber die, bei denen die Farben bunt gemischt sind« – sie deutete auf eine rot und weiß gestreifte Blume –, »sind die teuersten von allen. Hier, schaut mal hindurch.« Veronica reichte Annetta die Glaskugel, die sie in der Hand gehalten hatte. »Ihr könnt es damit deutlicher erkennen. Unsere Spitzenklöpplerin benutzt sie auch.«
Annetta schaute durch die Glaskugel, und tatsächlich, vor ihren Augen erschien das Gemälde auf einmal vergrößert. »Oh, seht nur!«, sagte sie aufgeregt. »Ameisen!« Am Stiel der rosa-weißen Tulpe kletterten zwei winzige Ameisen hinauf, die vollkommen detailgetreu dargestellt waren.
Annetta bewegte die Glaskugel vorsichtig über die anderen Bilder und staunte über die Kleinigkeiten, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte. In eines der Bilder hatte Suor Veronica zwei glitzernde Tautropfen gemalt, die in dem einzelnen Blatt, das den Stiel umhüllte, gefangen waren. Auf einem anderen schwebte
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