Das Mädchen von San Marco (German Edition)
so zielstrebige und besonnene Weise, dass die Atmosphäre Balsam für Annettas angeschlagene Nerven war. Wie anders ging es hier zu als im Wohntrakt der Nonnen, in dem immer Anspannung herrschte und Suor Purificacion und die contesse ihre verächtlichen Blicke und Bemerkungen tauschten! Und doch: Wahrscheinlich war es eine dieser Nonnen, die hier mit unschuldig unter dem breitrandigen Gartenhut gesenktem Kopf arbeitete, deren heimlichen Liebhaber sie aufgestört hatte – den Eindringling, den sie bis in den Garten verfolgt hatte, den Mann, dessen Atem und Lippen sie an ihrem Hals und in ihrem Haar gespürt hatte. Bei dem Gedanken an ihn begann sie vor Wut zu zittern.
»Gott segne Euch, suora .« Suor Annunciata, die Annettas Gesichtsausdruck bemerkt hatte, strahlte vor Freude. »Ich sehe, dass Ihr gern bei uns arbeiten werdet.«
Annetta, die nicht die Absicht hatte, länger an diesem
Ort – oder sonst irgendwo im Kloster – zu arbeiten als unbedingt notwendig, wandte sich der Nonne zu.
»Ich bin nicht hier, weil es mir so gut gefällt, sondern wegen der Äbtissin«, sagte sie steif vor Unbehagen, dass sie so unvorsichtig gewesen war, sich Gefühle anmerken zu lassen.
Suor Annunciata schien sich nicht im Geringsten über ihren Tonfall zu ärgern.
»Nun ja, wir verrichten hier schließlich alle das Werk Gottes«, sagte sie freundlich, »und auch Suor Veronica bildet da, wie Ihr bestimmt herausfinden werdet, keine Ausnahme. Nun aber auf, meine Liebe.« Sie gab Annetta einen kleinen Schubs. »Sagt ihr, dass Annunciata Euch geschickt hat.«
Suor Veronicas Zimmer war zwar an das Herbarium angegliedert, aber durch eine kleine, überdachte Vorhalle davon getrennt.
Annetta trat ein und befand sich in einem großen, hohen Raum, der vielleicht einmal eine alte Scheune gewesen war. Eine über eine winzige Wendeltreppe erreichbare Holzgalerie war an das obere Stockwerk angebaut worden und an drei Seiten mit vollen Bücherregalen bestückt. Die vierte Seite der Holzgalerie wurde von einem großen Fenster eingenommen, das – den wellenartigen Lichtmustern nach zu urteilen, die an der Decke tanzten – direkt auf die Lagune hinausging. In der Mitte des Raumes befand sich eine seltsame Holzkonstruktion, die an eine Kanzel erinnerte. Ein scharfer Geruch lag in der Luft, den Annetta nicht zuordnen konnte.
Zunächst wirkte der Raum leer, aber nach einigen Augenblicken bemerkte Annetta, dass jemand mit dem Rücken zum Fenster hinter der Kanzel saß. Suor Veronica hatte ein langes Pferdegesicht und eine römische Nase und war von unbestimmbarem Alter, weder alt noch besonders jung. Sie trug eine Brille, die ziemlich wackelig auf ihrem hohen Nasenrücken thronte, und hielt mit einer Hand etwas in die Höhe, das für Annetta wie eine Schreibfeder aussah. In der anderen Hand hatte sie einen sonderbaren Gegenstand, der einer Glaskugel ähnelte. Sie starrte so konzentriert auf etwas auf dem Schreibtisch vor ihr, dass Annetta annahm, ihr Eintreten sei nicht bemerkt worden. Doch nach einer Weile sagte die Nonne, ohne den Blick zu heben: »Ja, was gibt es?«
»Es tut mir leid, dass ich Euch störe … Suor Annunciata hat mich geschickt.«
»Wozu?«
Die Nonne tauchte ihre Feder in eines von mehreren Tintenfässchen auf dem Schreibtisch und begann mit sorgsamen Strichen etwas auf das Papier zu schreiben.
»Ich soll im Garten arbeiten. Die Mutter Oberin hat das angeordnet«, fügte Annetta erklärend hinzu. Das Verhalten der Nonne machte sie verlegen.
»Aber das hier ist nicht der Garten«, gab Suor Veronica zurück. Ihre Stimme klang verträumt und leicht abwesend, und ohne Annetta eines Blickes zu würdigen, schrieb sie weiter. Erst nach einigen Minuten schaute sie auf und war sichtlich überrascht, dass Annetta immer noch neben ihr stand.
»Es tut mir leid, Ihr seid am falschen Ort. Wie Ihr seht, ist dies nicht der Garten, suora« , wiederholte sie geduldig. Ihre Stimme war dunkel und freundlich, aber irgendwie spröde, so als sei ihr Mund ausgetrocknet.
Annetta konnte ihr nur zustimmen. Der Raum, in dem sie stand, sah aus wie eine Bibliothek oder ein Scriptorium und sicher nicht wie etwas, das mit Kräutern, Gemüse oder Blumen in Verbindung stand. Doch trotz ihrer Abneigung gegenüber jeglicher Gartenarbeit erfasste sie die Neugier auf Suor Veronica und das, was in diesem seltsamen, lichtdurchfluteten Raum voller Bücher vor sich ging.
»Annunciata sagte, dass Ihr vielleicht meine Hilfe gebrauchen könntet, suora« ,
Weitere Kostenlose Bücher