Das Mädchen von San Marco (German Edition)
sehr still. Dann griff sie in eine ihrer Taschen und holte das silberne Amulett heraus, das Bocelli ihr gegeben hatte.
»Sahen sie diesem hier ähnlich?«
Elena nahm die kleine silberne Meerjungfrau und hielt sie vorsichtig in ihren schmalen Fingern. Eine Zeitlang sagte sie nichts.
»Es tut mir leid, ich hätte dir das schon vorher zeigen sollen.« Maryam schaute sie beklommen an.
Doch in Elenas Gesicht spiegelte sich nicht der befürchtete Ärger wider, sondern nur Neugier.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Ich bin mir nicht sicher – Bocelli hat mir nicht viel darüber erzählt. Nur dass in dieser Gegend den Meerjungfrauen magische Kräfte zugeschrieben werden. Er sagte, dass man Amulette wie dieses überall entlang der Küste finden kann.«
»Aber wenn dem so ist, warum wollten sie die Frau dann loswerden?« Elenas wacher Verstand regte sich sofort. »Warum wollten sie sie nicht bei sich behalten?« Sie runzelte die Stirn. »Dieser Mann hat uns ein Vermögen bezahlt – zwei Pferde –, damit wir sie mitnehmen. Das ergibt keinen Sinn.«
Elena hatte Recht. Es hatte niemals einen Sinn ergeben. Maryam dachte an den verdreckten Stall, in dem Bocelli ihr die Mutter und das Kind gezeigt hatte. Hatten die erbärmlichen Jahre in Grissanis Bärenkäfig dazu geführt, dass Bocelli sie dazu überreden konnte, die beiden aufzunehmen? Vielleicht. Doch das war jetzt kaum noch von Bedeutung.
»Und deshalb bringen sie uns Geschenke? Wegen des Kindes?«
»Ich weiß nicht mehr als du. Ein Glücksbringer ist eine Sache, aber eine richtige Meerjungfrau ist etwas ganz anderes. Bocelli wusste das, er wusste, dass die Leute Angst bekämen.« Sie nahm Elena das Amulett wieder ab und hielt es hoch, so dass die Glöckchen im Windhauch klimperten.
»Aber woher wissen die Leute hier, dass sie bei uns sind? Außer uns hat niemand das Kind gesehen.«
Maryam zuckte erneut mit den Achseln. Schweigend betrachtete sie erst ihre Fingernägel, dann die Silhouette der kleinen Stadt an der Küste.
»Maryam …?« Elena setzte sich beunruhigt auf. »Was ist los? Hast du mir etwas verschwiegen?«
»Ja.« Maryam zögerte. »Ich glaube, ich …«
»Was?«
»Ich glaube, ich habe ihn gesehen.«
»Wen?«
»Bocelli.«
»Du hast diesen Bocelli wiedergesehen?« Elena blinzelte überrascht. »Wo?«
»Im letzten Dorf, als ich Brot kaufte. Ich war mir nicht ganz sicher, ich dachte, ich bilde mir das nur ein. Aber heute, gerade unten in der Stadt, habe ich ihn noch einmal gesehen. Ich bin zurückgekommen, um es dir zu erzählen, und fand dich hier so vor. Ich wollte es dir nicht verschweigen.«
»Schon wieder Bocelli!«, sagte Elena verblüfft. »Der Mann aus Messina. Was will er hier nur?«
»Ich nehme an, er verfolgt uns«, erwiderte Maryam.
Elena lachte ungläubig. »Was in aller Welt kann er von uns wollen?«
»Ich glaube nicht, dass wir es sind, auf die er es abgesehen hat.«
Die Meerjungfrau lag, wie so oft, hinten im Wagen, den Säugling neben sich. Maryam hatte aus einem Stück alten Segeltuchs, das sie als Treibgut an einem der Strände gefunden hatte, ein behelfsmäßiges Lager hergerichtet.
Elena redete wie immer in einem leisen, stetigen Singsang auf sie ein, während sie sich den beiden näherte, als wären sie Tiere, die besänftigt werden mussten. Sie hatte Wasser und einen Lappen mitgebracht, und während Maryam die Mutter ein Stück vom Lager forttrug, damit sie sich ungestört waschen konnte, nahm Elena dem Kind die Windeln ab und fing an, es zu säubern.
Als Maryam zurückkam, wusste sie sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. »Was ist los, ist das Kind krank?«
»Nein, nicht krank«, erwiderte Elena in ihrer ruhigen Art. »Aber schau es dir an – es ist immer noch so winzig wie ein Neugeborenes.« Sie nahm den Säugling hoch und hielt ihn Maryam hin. »Nicht schwerer als ein kleiner Brotlaib«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe Angst um das Kleine, Maryam. Es geht ihm nicht gut. Und es schreit nie.« Elena sprach leise, damit die Mutter sie nicht hören konnte.
»Warum?«
»Ich glaube, es ist zu schwach zum Weinen.«
Der winzige Brustkorb des Kindes hob und senkte sich schnell, als würde der Säugling nach Atem ringen.
»Was meinst du … ist es ein Junge oder ein Mädchen?« Maryam schämte sich beinahe, diese Frage zu stellen.
Elena schaute an die Stelle, wo die beiden Beine des Kindes hätten beginnen sollen und wo stattdessen ein einziges Körperglied war. Es endete in zwei
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