Das Mädchen von San Marco (German Edition)
es noch einmal. »Diese Leute sind arm. Warum, meinst du, geben sie uns von ihrem Essen ab?«
Aber Elenas Fragen schienen Maryam an diesem Morgen nur zu ärgern. Sie stand auf und ging wortlos den Hügel hinunter in Richtung Stadt. Elena blickte ihr resigniert nach. Sie war an Maryams Launen gewöhnt. Es war sowieso eine müßige Frage gewesen: Wen interessierte es schon, warum genau die Leute ihnen Geschenke hinlegten? Die Tradition der Gastfreundschaft wurde in den südlichen Ländern sehr groß geschrieben. Mehr steckte vermutlich nicht dahinter. Elena war zu hungrig, um sich weiter darüber Gedanken zu machen. Seufzend biss sie in das Brot. Das Öl war bitter und grünlich, das beste, das es gab. Die Oliven waren würzig und saftig. Dies würde ein guter Tag werden. Elena lächelte in sich hinein. Glücklichere Zeiten standen bevor, das fühlte sie in den Knochen.
Und da hörte sie das zartes Klingeln von Glocken. Nur kam es jetzt nicht vom anderen Ende der Stadt, sondern von irgendwo in nächster Nähe. Sie schaute sich um, weil sie eine Ziege zu sehen erwartete, die vom Rest der Herde getrennt worden war, aber dann fiel ihr auf, dass das Geräusch leiser und heller war als Ziegengeläut.
Elena stand auf und wagte sich ein Stück in den Hain vor, der an ihr Lager grenzte. Sie folgte dem Geräusch und war überrascht, wie schnell es unter den Bäumen immer dunkler wurde. Was sie für einen Olivenhain gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein dichtes Gehölz, vielleicht sogar ein Wald.
Einige der Bäume schienen uralt zu sein: grüne und silbergraue Flechten hingen wie Spinnweben an den Stämmen. Elena tappte unbeholfen über den tiefen, morastigen Boden, in dem ihre Füße versanken, und stolperte über versteckte Wurzeln und Ranken. Die Luft fühlte sich kühl an, obwohl man schon jetzt die kommende Hitze spürte. Hinter sich hörte Elena die Stimmen der Frauen aus dem Lager, und wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie sie durch die Bäume gerade noch erkennen. Da waren auch ihre kleinen Töchter, Nana und Leya. In ihren bunten Kleidern sahen sie aus wie Schmetterlinge, eine sonnengelb, eine feuerrot. Elena hatte sich schon fast entschlossen umzukehren, als sie wieder die Glöckchen hörte. Sie waren jetzt sehr nahe.
Fast gegen ihren Willen ging Elena weiter. Der Wald war hier noch dichter, die Bäume standen so eng beieinander, dass nur wenig Sonnenlicht bis zum Boden drang. Es war jetzt nicht mehr nur kühl, sondern richtiggehend kalt.
Elena fröstelte und blieb unschlüssig stehen. Hinter ihr knackte ein Zweig am Boden, und ihr Herz machte vor Schreck einen Satz. Sie drehte sich um, weil sie glaubte, dass Maryam oder eine der anderen Frauen ihr gefolgt war – aber da war niemand.
Oder doch?
Im Umdrehen nahm Elena aus dem Augenwinkel etwas Leuchtendes wahr. Als sie erkannte, was es war, hätte sie beinahe laut aufgelacht. Panagia mou! Bei der Mutter Gottes, was bist du doch für eine schreckhafte Närrin!, schalt sie sich und legte die Hand auf ihr rasendes Herz, bis sie sich beruhigt hatte. Das leuchtende Etwas war nichts anderes als ein Sonnenstrahl, der gerade in diesem Augenblick durch das Blätterdach gedrungen war. Staubkörnchen vom Waldboden tanzten im Licht wie Diamantensplitter. In dem dunklen Wald erschien Elena dieser eine Sonnenstrahl schöner als alles, was sie jemals im Leben gesehen hatte.
Erst dann erblickte sie den Schrein.
Sie wusste sofort, was es war. Eine schlichte Stätte der Andacht, nichts weiter als ein Felsen auf einer kleinen Lichtung, aber sie erkannte, dass ihn jemand grob behauen hatte. Vorsichtig trat sie zwei Schritte näher und bemerkte drei Bilder: eine Art Halbmond, eine Hand und eine Pflanze oder Blume mit drei Stielen. Was auch immer das sein mochte, es war uralt und von den Bewohnern der Stadt zweifellos schon längst vergessen worden.
Elena bekreuzigte sich eilig.
Rings um den Fuß des Felsens wuchsen Gräser und dichtes, grünes Moos, daher nahm sie an, dass hier der Ursprung einer verborgenen Quelle liegen musste. Da sie sie gern mit eigenen Augen sehen wollte, näherte sie sich dem Felsen behutsam. Und tatsächlich perlte aus einer tiefen Spalte ein kleines Rinnsal. Durch puren Zufall fiel der Sonnenstrahl gerade auf Fels und Wasser und ließ es wie Kristall funkeln. Winzige Regenbögen tanzten über dem Moos und versprühten ihre Farben – Rot, Violett, Indigo, Orange.
Eine Weile lang starrte Elena mit offenem Mund auf das farbige Licht. Sie war
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