Das Mädchen von San Marco (German Edition)
winzigen Füßchen, die zwar perfekt geformt, aber am Knöchel zusammengewachsen waren und sich nach außen spreizten wie ein Fischschwanz.
»Weder noch«, sagte Elena mitleidig. »Oder beides, wir werden sehen. Lass uns jetzt das tun, wozu wir hergekommen sind.«
Sie ging hinüber zu der Mutter, die Maryam unter einen Baum gelegt hatte, damit sie die Sonne genießen konnte, und setzte sich neben sie. Der Boden war steinig, aber es roch angenehm nach duftenden Kräutern – Minze und wildem Thymian. Eine umgestürzte Säule, die wohl einst zu einem Tempel gehört hatte, lag im Unterholz. Elena setzte sich darauf, nahm einen Kamm aus ihrer Tasche und begann, das Haar der jungen Frau zu kämmen.
»Sie mag das«, sagte Elena sanft. »Du magst das, nicht wahr?«
»Ich dachte, wir wollten sie zum Reden bringen und nicht stundenlang ihre Haare frisieren.«
»Nur Geduld, Maryam, warte ab.«
Und sie hatte Recht. Nach einer Weile schien sich die junge Frau zu entspannen, sie schloss die Augen und drehte das Gesicht zur Sonne. Eine leichte Brise war aufgekommen, und auf dem blauen Meer kräuselten sich kleine weiße Wellen. Das feine Haar legte sich wie ein Schleier über das Gesicht der Liegenden und glänzte rotgolden. Bald darauf hörte Elena mit dem Kämmen auf und nahm die Hand der Frau zwischen ihre eigenen.
»Thalassa!«, sagte sie laut, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und schüttelte sie am Arm. »Thalassa?«
Die junge Frau, die auf den Horizont gestarrt hatte, wandte ihr das Gesicht zu. Ihren Augen waren so blau wie das ferne Meer.
»Wie heißt du?«, fragte Elena. »Du musst einen Namen gehabt haben, bevor du zu uns gekommen bist. Pos se lene? Onoma? «
»Ist es denn wichtig, wie sie wirklich heißt?«, warf Maryam schroff ein. »Sie hört dich nicht. Sie hört niemanden. Es ist, als würde sie schlafen.« Sie schob die Hand in die Tasche und zog das Amulett hervor. »Vielleicht sollten wir die beiden einfach wieder ins Meer zurückbringen und die Sache auf sich beruhen lassen. Hier, schau mal, ob sie das aufweckt.«
Elena nahm das Amulett und hielt es hoch, damit die junge Frau es sehen konnte.
»Sieh her!« Sie bewegte es, damit das Silber im Sonnenlicht glänzte und die Glöckchen klingelten. »Das ist für dich und für dein Kind.«
Sie legte das silberne Amulett in die geöffnete Hand der Meerjungfrau, aber diese schien es nicht wahrzunehmen, und es rutschte aus ihrer Hand zu Boden.
»Das ist sinnlos – ich weiß nicht, warum wir uns überhaupt die Mühe machen. Sie ist schwachsinnig, und damit basta!« Maryam hob einen Stein auf und warf ihn gereizt den Abhang hinunter. »Wahrscheinlich ist sie so geboren.«
Aber Elena ließ sich nicht so leicht entmutigen. »Schau her.« Sie hob das Amulett vom Boden auf und hielt es zwischen den Fingern. »Schau, Thalassa. Hier ist das Amulett. Du siehst es …« – sie ballte die Hand zur Faust – »und jetzt, ha! « – sie öffnete die Faust – »… und jetzt ist es weg!« Das Amulett war verschwunden. »Ach, sieh mal an, was haben wir denn hier?« Lächelnd beugte sie sich vor und zog das Amulett hinter dem Ohr der jungen Frau hervor.
»Du verschwendest deine Zeit.« Maryam hob den nächsten Stein auf und schleuderte ihn in hohem Bogen in Richtung Meer, sodass er polternd den Hügel hinuntersprang. »Sie wird niemals fähig sein, uns irgendetwas mitzuteilen –«
»Maryam …«
»Weder über Bocelli noch über sonst etwas –«
»Maryam!«
Elenas scharfer Ton ließ Maryam aufhorchen.
»Hast du das gesehen?«
»Was?«
»Das Mädchen. Etwas geschieht mit ihm!«
Und es stimmte. Maryam erkannte sofort, dass sich etwas verändert hatte. Sie kniete sich neben Elena auf den felsigen Boden. »Was hast du gemacht?«
»Nichts, das schwöre ich dir.« Elena hockte sich auf die Fersen. »Nur einen meiner Zaubertricks.«
»Noch mal, schnell!«
Also wiederholte Elena den Trick. Sie nahm das Amulett in die Hand und ließ die kleine Meerjungfrau durch die Finger gleiten, so schnell und geschickt, dass sie einem silberglänzenden Fisch ähnelte, und als sie sicher war, dass die junge Frau ihr aufmerksam zusah, ließ sie das Amulett verschwinden. Danach ließ sie es wieder auftauchen, mal hinter ihrem Kopf, dann im Stiefel von Maryam, dann in einer Astgabel am Baum.
»Ihre Augen, sieh dir die Augen an!«
In dem Gesicht der jungen Frau ging eine außergewöhnliche Veränderung vor sich. Es war, als würde sich ein Nebel oder ein
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