Das Magische Labyrinth
Göring, der ihr an Bord eines Dreimastschoners entgegensah, hob die Augenbrauen. Das Banner entsprach ganz und gar nicht dem scharlachroten Phönix auf dem blauen Grund, den Clemens zum Wappen erwählt hatte.
Der Himmel über dem großen Schiff wimmelte von Gleitern. Der Fluß selbst war voll von Schiffen aller Art. Sowohl offizielle Beobachter als auch Neugierige waren zugegen.
Das Schiff drosselte nun seine Geschwindigkeit; offenbar hatte der Kapitän den Raketenschuß, den man von Görings Schoner abgefeuert hatte, richtig interpretiert. Abgesehen davon formten die anderen Schiffe nun einen Halbkreis um die Rex, den man, ohne die Fahrzeuge zu rammen, nicht durchbrechen konnte.
Schließlich hielt es an. Die Schaufelräder drehten sich gerade noch so schnell, um der Strömung Widerstand zu leisten.
Als der Schoner längsseits kam, rief Görings Kapitän den Leuten auf der Rex mit Hilfe eines Flußdrachenhorns etwas zu. Auf dem untersten Deck eilte ein Mann zum Telefon und sprach mit dem Ruderhaus. Kurz darauf lehnte sich ein anderer Mann aus dem Ruderhaus. Auch er hielt ein Sprechgerät in der Hand. Die Stimme, die nur wenig später über das Deck des Schoners hinwegdröhnte, verwunderte Hermann. Das Ding scheint die Stimme auf elektrischem Wege zu verstärken, dachte er.
»Kommen Sie an Bord!« rief der Mann auf esperanto.
Obwohl der Kapitän der Rex nicht weniger als dreißig Meter von ihm entfernt war und sich wenigstens fünfzehn Meter über ihm befand, erkannte Hermann ihn. Das braune Haar, die breiten Schultern und das ovale Gesicht gehörten John Lackland, dem Ex-König von England, dem Herrscher von Irland und so weiter und so fort. Ein paar Minuten später war Hermann an Bord der Rex und wurde von zwei schwerbewaffneten Wachoffizieren durch einen kleinen Aufzug auf das Oberdeck des Ruderhauses gebracht. Während sie unterwegs waren, fragte er: »Was ist eigentlich aus Sam Clemens geworden?«
Die Männer sahen ihn überrascht an. Einer von ihnen sagte: »Was wissen Sie über ihn?«
»Der Klatsch kommt eben noch schneller voran als Ihr Schiff«, sagte Hermann. Das stimmte sogar, und wenn er ihnen auch nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, so hatte er sie doch zumindest nicht belogen.
Sie betraten den Kontrollraum. John stand neben dem Sitz des Steuermanns und schaute hinaus. Als die Aufzugtüren sich schlossen, wandte er sich um. Er war etwa einen Meter siebzig groß, hatte weit auseinanderstehende blaue Augen und wirkte ziemlich männlich. Er sah nicht einmal übel aus. Er trug eine schwarze Uniform, die er möglicherweise nur dann anzog, wenn es darum ging, irgendwelche lokale Würdenträger zu beeindrucken. Die Jacke, die Hosen und die Stiefel waren aus Flußdrachenleder. Sein Jackett war mit Goldknöpfen verziert, und auf seinem Mützenschirm brüllte lautlos ein goldener Löwe. Hermann fragte sich, wo er wohl das Gold herhatte, denn das war auf der Flußwelt äußerst selten. Vielleicht hatte er es irgendeinem glücklosen Wicht abgenommen.
John trug kein Hemd. Sein Brusthaar, das eine oder zwei Nuancen dunkler war als das auf seinem Haupt, quoll reichlich aus dem V-förmigen Ausschnitt des Jacketts.
Einer der Offiziere, die ihn begleitet hatten, salutierte. »Der Emissär von Virolando, Sire!«
Also Sire, dachte Hermann, und nicht Sir.
Es war offensichtlich, daß John seinen Besucher nicht erkannte. Er überraschte Hermann damit, daß er lächelnd auf ihn zukam und ihm die Hand reichte. Hermann nahm sie. Warum auch nicht? Er war schließlich nicht gekommen, um sich zu rächen. Er hatte seine Pflicht zu erfüllen.
»Willkommen an Bord«, sagte John. »Ich bin John Lackland, der Kapitän. Obwohl ich, wie Sie hören, über kein Land verfüge, besitze ich doch etwas ungleich Wertvolleres: dieses Schiff.«
Er lachte und fügte hinzu: »Ich war einst König von England und Irland, falls Ihnen das etwas sagt.«
»Ich bin Bruder Fenikso, Stellvertretender Bischof in der Kirche der Zweiten Chance. Des weiteren erfülle ich die Funktion eines Sekretärs von La Viro. Ich heiße Sie in seinem Namen in Virolando willkommen. Natürlich habe ich von Ihnen gelesen, Majestät. Ich wurde im neunzehnten Jahrhundert in Bayern geboren.«
Die dichten, dunklen Augenbrauen Johns hoben sich. »Ich habe viel von La Viro gehört. Man hat uns erzählt, daß er nicht weit von hier lebt.«
Dann stellte John ihm die anderen vor, aber abgesehen von Augustus Strubewell, dem Ersten Offizier, kannte Hermann niemanden.
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