Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
den Tagen und Monaten danach würden sie einen harten Winter erleben und ein verstörtes Königreich und all die Verwüstungen, die Clodovec hinterlassen hatte. Heute konnten sie noch für eine kleine Weile Freude genießen.
Hand in Hand sprangen Averil und Gereint zurück in die Gruppe der Tanzenden. Ihr Lachen spiegelte seines wider und wirbelte sie beide fort.
Epilog
Die Nacht war trostlos, ein eiskalter Wind blies von Norden. Eisregen trommelte auf das Dach und gegen die Fensterläden.
Prinz Esteban saß mit einem Buch auf dem Schoß am Feuer. Jede Vision, die er heraufbeschwor und jede Weissagung, die er versuchte, hatte dasselbe Resultat gehabt. Clodovec war an seinem Hochmut zu Grunde gegangen. Esteban trauerte nicht um ihn - genauso wenig wie Lutece -, noch nicht. Heute Abend wussten nur die Magier Bescheid. Das Volk von Lys sollte noch für eine Weile unwissend bleiben. Ob diese Unwissenheit ein Segen war, hätte Esteban nicht sagen können.
Seine Verbündeten in Gotha und Moresca und in Lys hatten sich gegenseitig zur Raserei getrieben. Sie waren versessen darauf, den Thron an sich zu reißen und einen der ihren daraufzusetzen. Esteban hatte sie mit größter Mühe in ihre Schranken verwiesen, und würde sie in nicht allzu langer Zeit erneut zurechtweisen müssen, aber fürs Erste hatte sich ihr Gezeter im Äther verflüchtigt.
Während er die Seiten umblätterte, erinnerte er sich kaum der Worte, die seine Augen überflogen hatten. Sie schwanden ganz aus seinem Bewusstsein, als er eine neue Seite aufschlug, aus der die trockenen, brüchigen Blütenblätter einer Rose fielen. Sie waren immer noch blassgolden und verströmten einen letzten Hauch ihres ursprünglichen lieblichen Dufts. Quitaines goldene Rose war nun für ihn verloren, weit fort jenseits des Meeres. Er träumte fast jede Nacht von ihr; oft stand sie in der Höhle unterhalb des königlichen Hauses und starrte hinab auf das Bildnis der schlafenden Schlange. Er kannte jede Linie ihres Gesichts und jede sanft geschwungene, liebliche Rundung ihres Körpers.
Er wollte gerade in den Traum gleiten und wurde von einer Wolke aus Rosenduft eingehüllt, als er plötzlich aufschreckte und erwachte. Seine Diener waren alle zu Bett gegangen. Alle Türen waren verriegelt, und sein Haus war sowohl gegen sterbliche als auch magische Eindringlinge gesichert.
Das hätten sie zumindest sein sollen. Die Tür seines Arbeitszimmers schwang auf. Dunkelheit sickerte herein und mit ihr der Geruch nach Salz und Fisch und den Untiefen des Meeres.
Esteban saß vollkommen still. All seine Verteidigungsmittel schlagbereit, doch er hatte weder den Willen noch die Macht sie anzuwenden.
Die Gestalt, die aus der Dunkelheit heraustrat, war nass bis auf die Haut. Im bleichen Kranz einer Tonsur klebte eine dünne, weiße Haarsträhne auf dem schmalen Schädel. Dunkle Augen glühten tief eingesunken in ihren Höhlen. Langsam und vorsichtig stand Esteban auf. Genauso vorsichtig sagte er: »Vater Gamelin. Was verschafft mir die Ehre?«
König Clodovecs einstiger Berater würdigte ihn kaum eines Blickes und glitt lautlos an ihm vorbei, um sich so nah wie irgend möglich ans Feuer zu stellen. Aus seiner schwarzen Robe stieg Dampf auf, der nach Hafenbecken und Brackwasser roch.
»Was ist mit Eurem König?«, fragte Esteban. »Konnte er mit Euch davonkommen? Wurde er auf wundersame Weise gerettet?«
»Nein.« Gamelin drehte sich um, um Esteban anzuschauen, oder vielleicht tat er es auch nur, weil er sich den Rücken wärmen wollte. Jetzt sah Esteban, dass er ein Bündel an die Brust presste. Er hielt es ihm hin.
Esteban zögerte. Ein Geschenk dieses Mannes konnte nichts anderes als todbringend sein. Aber Neugierde war eine seiner schlimmsten Sünden.
Die äußeren Hüllen waren vom Meerwasser durchweicht, doch das Innere des Bündels war in ölgetränkte Seidentücher eingeschlagen. Sie hatten den Inhalt trocken gehalten: eine uralte, rostige Speerspitze und ein schmuddeliges Bündel Leinen.
Um ein Haar hätte Esteban beides vor Schreck fallen gelassen. »Großer Gott! Wie zum Teufel …«
Gamelins kalter Blick ließ Estebans Geschwätz verstummen. Vielleicht war es eine optische Täuschung, aber im flackernden Lichtschein des Feuers waren auf seinem Gesicht matt schimmernde Schuppen zu erahnen. Seine Wangen sahen schon nicht mehr so eingefallen aus und wurden zusehends voller,je länger er sich in der Wärme des Feuers regenerierte. »Wir haben das dritte Mysterium
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