Das Magische Messer
die Felsen zum See hinunter. Sie ging durch das Lager, und ein oder zwei Soldaten blickten kurz auf, sahen aber gleich wieder weg und vergaßen, was sie gesehen hatten. Vor dem Zelt, in das Mrs. Coulter gegangen war, blieb die Hexe stehen und legte einen Pfeil auf.
Sie lauschte auf die Stimme, die gedämpft durch die Lein wand drang, dann trat sie vorsichtig in die zurückgeschlagene Eingangstür, die sich zum See öffnete.
Drinnen sprach Mrs. Coulter mit jemandem, den Lena Feldt nicht kannte, einem älteren, doch kräftig wirkenden Mann mit grauen Haaren, dessen Dæmon, eine Schlange, sich um sein Handgelenk geringelt hatte. Er saß auf einem Campingstuhl neben Mrs. Coulter, die sich zu ihm beugte und leise mit ihm sprach.
»Aber ja doch, Charles«, sagte sie gerade, »ich sage dir alles, was du willst. Was möchtest du denn wissen?«
»Wie kommt es, dass du den Gespenstern befiehlst?«, fragte der Mann. »Ich hielt das nicht für möglich, aber dir folgen sie wie Hunde … Haben sie vor deiner Leibwache Angst? Wie machst du das?«
»Ganz einfach«, sagte sie. »Sie wissen, dass ich ihnen mehr Nahrung beschaffen kann, wenn sie mich am Leben lassen, als wenn sie mich aussaugen. Ich kann sie zu allen Opfern führen, nach denen ihr Phantomherz verlangt. Als du sie mir beschrieben hattest, wusste ich sofort, dass ich sie beherrschen kann, und so war es dann auch. Dabei zittert eine ganze Welt vor der Macht dieser farblosen Dinger! Aber, Carlo«, – sie flüsterte jetzt – »ich kann dir auch einen Gefallen tun. Soll ich dir einen noch größeren tun?«
»Marisa«, murmelte er, »es ist schon Vergnügen genug, in deiner Nähe zu sein …«
»Nein, Carlo, du weißt, dass das nicht stimmt, du weißt, dass ich noch viel mehr kann.«
Ihr Dæmon streichelte mit seinen kleinen, mit einer schwarzen Hornhaut überzogenen Pfoten den Schlangendæmon. Die Schlange löste sich vom Handgelenk des Mannes und schob sich seinen Arm entlang auf den Affen zu. Der Mann und die Frau hielten mit goldenem Wein gefüllte Glä ser. Die Frau nippte an ihrem und beugte sich noch etwas nä her zu ihm hin.
»Ah«, sagte der Mann, als sein Dæmon ganz allmählich von seinem Arm in die Arme des goldenen Affen glitt. Der Affe hob sie langsam zu seinem Gesicht empor und rieb mit seiner Wange weich über ihre smaragdgrüne Haut. Ihre schwarze Zunge kam züngelnd heraus, und der Mann stöhnte.
»Carlo, sag mir, warum du hinter dem Jungen her bist«, flüsterte Mrs. Coulter mit einer Stimme, die so weich war wie die Liebkosungen des Affen. »Warum suchst du ihn?«
»Er hat etwas, das ich will. Oh, Marisa –«
»Was, Carlo? Was hat er?«
Der Mann schüttelte den Kopf, aber es fiel ihm schwer. Sein Dæmon hatte sich sanft um die Brust des Affen geschlungen und fuhr mit dem Kopf immer wieder durch das weiche, glänzende Fell, während die Hände des Affen ihn liebkosten.
Lena Feldt stand unsichtbar zwei Schritte von ihnen entfernt und sah zu. Die Sehne ihres Bogens war straff gespannt, der Pfeil aufgelegt, sie hätte nur zu ziehen und loszulassen brauchen, und Mrs. Coulter wäre auf der Stelle tot umgefallen. Aber die Hexe war neugierig. Stumm und mit großen Augen stand sie da.
Doch weil sie Mrs. Coulter beobachtete, merkte sie nicht, was hinter ihr auf dem kleinen blauen See geschah. Am Ufer auf der anderen Seite schien in der Dämmerung plötzlich ein kleines Wäldchen geisterhafter Bäume aus dem Boden gewachsen zu sein, ein Wäldchen, durch das immer wieder ein Zittern lief wie in bewusster Absicht. In Wirklichkeit handelte es sich nicht um Bäume, und während die ganze Aufmerksamkeit Lena Feldts und ihres Dæmons auf Mrs. Coulter gerichtet war, löste sich ein bleicher Schemen aus der zittern den Masse, trieb über das eisige Wasser, ohne auf dessen Oberfläche das geringste Kräuseln zu verursachen, und blieb einen halben Meter vor dem Stein stehen, auf dem Lena Feldts Dæmon saß.
»Du kannst es mir doch ruhig sagen, Carlo«, murmelte Mrs. Coulter. »Du könntest es mir ins Ohr flüstern. Tu so, als würdest du schlafen, wer kann dir dann einen Vorwurf daraus machen? Sag mir einfach, was der Junge hat und warum du es haben willst. Vielleicht kann ich es dir beschaffen … Willst du das nicht auch? Sage mir einfach, was es ist, Carlo. Ich will es nicht haben, ich will das Mädchen. Was ist es? Sag es mir, und du sollst es haben.«
Er erschauerte. Seine Augen waren geschlossen. »Es ist ein Messer«, sagte er dann, »das
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