Das Majestic-12 Dokument : Thriller (German Edition)
zog es vor, einen Augenblick für sich haben, um in Ruhe die Ereignisse des Tages Revue passieren zu lassen. Der Bus verließ North San Francisco Richtung San Rafael. Wie oft war er damals diesen Weg mit Ethan gefahren? Ein wenig wehmütig erinnerte er sich an ihre Studienzeit zurück.
Er hatte Ethan im ersten Semester seines Medizinstudiums an der University of California kennengelernt. Während er selbst einer jener wissbegierigen Erstsemestler mit gestärktem Hemd und grün-weiß gestreifter Baumwollweste war, gehörte der mühselige Vorgang des ›Lernens‹ nicht zu Ethans herausragendsten Stärken. Er vertiefte seinen Blick lieber in die Ausschnitte der Kommilitoninnen als in seine Bücher. Sein Interesse galt Mädchen, lauter Rockmusik, gutem Whiskey, Autos und allem voran dem Müßiggang.
Wallace schmunzelte, als er daran dachte, dass sie den Campus oftmals gar nicht erst erreicht hatten. Stattdessen hatten sie allzu gern einen Zwischenstopp am Golden Gate Park eingelegt, um den Tag mit Freunden zu verbringen. Seit Jahren war er nicht mehr dort gewesen. Ob es das Planetarium noch gab? Das kleine viktorianische Gewächshaus? Besonders gut erinnerte er sich an die ›Freistunden‹, die sie mit ihrem alten Professor in dem japanischen Teegarten verbracht hatten - und in denen sie einfach nur nichts taten. Im Grunde konnte Wallace diesem sinnlosen ›Herumsitzen‹ nicht unbedingt etwas Gutes abgewinnen. Ganz anders als Ethan.
Noch heute spürte er das leichte Kribbeln im Bauch, wenn die nächste Vorlesung bereits drängte und Ethan in stoischer Ruhe neben Professor Lear saß, und die beiden, Zeit und Raum vergessend, ihre Gesichter in die Sonne hielten. Meistens endeten ihre ausgedehnten Pausen damit, dass er ungeduldig mit seiner Mappe unter dem Arm auf- und abging und der Professor irgendwann seinem wortlosen Drängen nachgab, stets mit der Mahnung: »Du musst lernen, dich zu entspannen, Colin. Nur wer seinem Geist die nötige Ruhe gönnt, dem gelingt es, zu den Tiefen des menschlichen Verstandes vorzudringen – und eben dort liegt das eigene Genie verborgen, mein Junge.«
Wallace schloss die Augen. Einfach nur nichts tun, dachte er. Heute klang das gut. Und er wünschte sich in die Zeit zurück, als sie bis tief in die Nacht am Lincoln Boulevard gesessen und den freien Blick entlang der Küste genossen hatten. Schweigend hatten sie beobachtet, wie der Lincoln Park von der Dunkelheit verschluckt wurde und am North Beach die italienischen Restaurants, traditionellen Café-Bars und Musikclubs von Little Italy die Nacht zum Tage machten. Rückblickend gehörten jene Momente wohl zu den schönsten seines Lebens.
Früher war alles anders gewesen. Mit Ethan war alles anders gewesen. Wallace seufzte. Wo waren all die Jahre geblieben? Wo war Ethan all die Zeit gewesen? Und wohin war er damals so spurlos verschwunden? Ohne ein Wort des Abschieds. Ohne einen Brief, eine Karte oder sonst ein Lebenszeichen. Und plötzlich war er wieder zurück.
07| SAN FRANCISCO, MOTEL ›DOWNTOWN INN‹, 19:02 UHR
Der Killer betrachtete den silbernen Flachmann, in dem sich das trübe Licht der Nachttischleuchte brach. Gleich daneben lag sein Revolver, ein Manurhin MR-93. Mittlerweile hatte er sich an das Tragen dieser Waffe gewöhnt. Sie verlieh ihm ein Gefühl von Sicherheit. Von Stärke. Und die konnte er jetzt gebrauchen. Nach dem Desaster der vergangenen Nacht durfte er sich keine Fehler mehr erlauben. Er gönnte sich einen letzten Schluck Whiskey, griff sein Handy und wählte die Nummer, die man ihm gegeben hatte.
»Ja?«, meldete sich eine ruhige, eindringliche Stimme. Er kannte diesen höflichen, jedoch ganz und gar emotionslosen Tonfall allzu gut, doch noch immer bekam er eine Gänsehaut, wenn er sie hörte. Ein Gesicht dazu gab es für ihn nicht.
»Ich bin´s. Ich wollte nur sagen, dass es losgeht.«
Eine kurze Pause entstand. »Ich hoffe, Sie wissen, dass wir keine weiteren Rückschläge dulden!?«
»Natürlich.«
»Gut. Andernfalls müssten wir davon ausgehen, dass Sie Ihr Geld nicht wert sind - und ein Risiko für uns darstellen.«
Ein Knacken in der Leitung. Das Gespräch war beendet. Er schaltete das Handy aus und ärgerte sich darüber, dass seine Hände zitterten. Ein bitterer Geschmack nach Magensäure lag ihm auf der Zunge. Die knappe Botschaft dieses gesichtslosen Monstrums war ebenso deutlich wie erbarmungslos gewesen: Den nächsten Fehlschlag würde er mit seinem Leben bezahlten. Er blieb noch einige
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