Das Mal der Schlange
auf.
Ilaria trat nervös von einem Fuß auf den anderen.
„ Anscheinend bist du etwas aufgeregt, Tristan gleich zu sehen“, sagte Emmaline. „Aber das wäre ich an deiner Stelle auch – angesichts all der Dinge, die er über dich weiß. Und man kann nie sicher sein, was er schon weiter erzählt hat, nicht wahr?“
Zwar hatte Emmaline keine Ahnung, was Nathaniel vor hatte, aber sie war hundertprozentig sicher, dass Tristan unter gar keinen Umständen den Schutz des Hauses verlassen würde. Umso verwunderlicher fand sie es, dass anscheinend sowohl Victor als auch Ilaria dies zu glauben schienen und Nathaniels Kooperation nicht in Frage stellten. Offensichtlich hielten sie ihre Autorität für unantastbar.
Die Haustüre öffnete sich erneut einen Spalt und ein Mann huschte gebückt durch den Regen über die Straße. Erst als er sie beinahe erreicht hatte und ins Licht trat, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf.
Victor, dessen Augen eben noch triumphierend gelb aufgeglüht hatten, zuckte erschrocken zusammen.
„ Sixtus Valerianus!“, keuchte Ilaria, „Aber das kann nicht sein…!“
„ Schwester – du dachtest doch nicht wirklich, dass Tristan Sisto für dich töten würde?“, Nathaniels Stimme troff vor Sarkasmus.
Der Wind peitschte kalte Tropfen über die Gruppe, aber sie spürten sie nicht.
Alle starrten auf Sisto, der von einem Ältesten wieder zum Jäger geworden war. Beinahe zwei Meter groß stand er vor ihnen.
Seine Haut war jung und faltenfrei und spannte sich über breite Wangenknochen. Eine lange Narbe lief über seine linke Wange und gab seinem aristokratischen Gesicht etwas Wildes. Die weißen Haare waren nun wieder pechschwarz, wie er es Emmaline damals versichert hatte, und obwohl er einen langen dunklen Mantel trug, war es unübersehbar, dass sein Körper stark und trainiert war.
`Auf seine Feinde im Feld muss er als General wirklich furchteinflößend gewirkt haben`, dachte Emmaline.
Es war unmöglich Sistos Alter zu schätzen. Die Magie der Kinder Kains machte ihn jung und zeitlos.
Wie ein Rachegott stand er vor Victor und Ilaria, im tobenden Sturm einer englischen Herbstnacht.
„ Ich verlange Tristan zu sehen!“, anscheinend hatte sich Victor von seinem Schock erholt, denn seine Stimme klang bereits wieder fordernd.
Wie vorher schon Nathaniel, kam nun auch Sisto nicht umhin, Victor mit einem kleinen Lächeln zu bedenken. Dabei wirkte die Narbe auf seiner Wange wie ein Grübchen und ließ ihn beinahe amüsiert scheinen – wenn der angewiderte Ausdruck in seinen haselnussbraunen Augen nicht gewesen wäre. Erst jetzt fiel Emmaline auf, dass warme Flammen darin flackerten, die die Farbe von dunklem Burgunder hatten, satt und blutrot.
„ Du wirst Tristan nur noch ein einziges Mal sehen, Bruder – bei deiner Verhandlung, bevor du stirbst.“
„ Ich warne dich“, setzte Victor an, aber Sisto unterbrach ihn.
„ Nein! Ich warne dich! Eure Tage sind gezählt! Wie kannst du es wagen, Forderungen zu stellen!“, sogar seine Stimme hatte sich verändert. Sie war noch tiefer geworden und kräftiger und erinnerte Emmaline an entferntes Donnergrollen.
Ilaria wich erschrocken zurück, „Was willst du tun? Uns auf offener Straße ermorden?“
„ Das wäre keine schlechte Idee – aber ich bin nicht wie du. Ich lege mich nicht auf die Lauer und ermorde Unschuldige und schieße auf meine Brüder und Schwestern. Euch beiden ist etwas sehr wichtiges verloren gegangen – eure Ehre. Ihr seid nichts mehr als Verräter, Mörder und habt es nicht verdient, weiter unter uns zu leben!“
Victor lachte auf, „Das zu entscheiden liegt wohl nicht an dir.“
Schlagartig wich jede Beherrschung aus Sistos Gesicht. Nun zeigte er den beiden das ganze Ausmaß seines Zorns.
„ Lauf, Victor! Aus Respekt vor dem Mann, der du einmal warst, lasse ich dich und deine Komplizin gehen. Aber ihr werdet nirgendwo Unterschlupf finden, niemand wird euch aufnehmen und ihr werdet nirgends sicher sein. Alle Brüder und Schwestern auf dieser Welt wissen, was ihr getan habt. Alle werden sie euch jagen. Und wenn wir euch schließlich eingekreist haben und es keinen Ausweg mehr gibt, werdet ihr für eure Sünden bezahlen.“
70.
2002
Edinburgh
Schottland
„ Aber das ist doch nur eine Finte! Verstehst du denn nicht?“ weicher Rauch stieg in einer Spirale von Ilarias Zigarette auf. Sie stand vor der Minibar ihres Hotelzimmers und nahm gerade eine Flasche Champagner aus dem kleinen Kühlschrank. Nun
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