Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Wut den Kolben seines eigenen Gewehrs in den Rücken. Max gelang es gerade noch, das Gleichgewicht zu bewahren, und er schrie, ohne sich umzudrehen: »Na los, stoß nochmal zu! Dann mach ich dich so fertig, dass du deine Leute nicht mehr wiedererkennst!«
Aber er unterließ es vorläufig, mit Sergej zu reden.
Sie waren schon ziemlich lange unterwegs, und Sergej blickte sich neugierig um. So weit war er nie gekommen.
Die Stadt war offenbar nicht so klein, wie Sergej immer gedacht hatte. In den zwanzig Jahren, die er hier im Untergrund gelebt hatte, in denen er mehrere Hundert Mal an die Oberfläche gekommen war, hatte er kein klares Bild von diesem Ort gewonnen.
Er hatte das Gefühl, dass sie in einigem Abstand von langen, geschmeidigen Schatten begleitet wurden, die sich parallel zu ihrem Zug hinter Häusern und Bäumen bewegten. Offenbar hatten die Hummeln und diese finsteren Gestalten noch nicht alle Plorge vernichtet … Sergej fragte sich, ob die Haut der Wolfsratten wohl wärmte. Oder war es Teil eines Rituals, dass die Neandertaler diese Häute trugen? Er würde sich bei Gelegenheit erkundigen – sofern sich eine solche je bieten würde.
Am Ende der Straße hielt ihre Prozession neben einem zweistöckigen Haus mit Blendsäulen, das sogar einen ziemlich heimeligen Eindruck machte und wohl ehemals in einem fröhlichen Gelb gestrichen gewesen war. Einer der Wilden, der Angins Gewehr geschultert hatte, trat mit entschlossenem Schritt unter das schief hängende Vordach und verschwand im Inneren des Gebäudes. Denis wankte auf seinen Vater zu und ließ sich gegen ihn sinken. Der Junge atmete schwer unter dem Helm, und Sergej spürte, dass sein Sohn völlig entkräftet war. Während Sergej ihn in seinen Armen hielt, erblickte er plötzlich zwischen den Schultern zweier vor ihm stehender Wilder eine vertraute Gestalt – die einen Augenblick später wieder aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war. Sergej sah sich nach Angin um, wollte ihn fragen, ob dieser die Gestalt ebenfalls erblickt hatte. Aber Angin starrte auf den Boden vor seinen
Füßen. Sergej beugte sich über seinen Sohn und wollte ihn gerade mit einem hübschen Märchen ablenken, einem Märchen darüber, dass nicht alle zurückgebliebenen Kolonisten in der Kolonie gestorben waren, als der Wilde mit Angins Gewehr zurückkehrte und seinen Gefährten zuwinkte – entweder mit einer Hand mit langen schwarzen Nägeln oder mit der Plorg-Pfote –, was wohl bedeuten sollte: »Bringt sie herein.«
Mit groben Stößen wurden sie in das Haus hineingescheucht.
Innen glich es Dutzenden von ähnlichen Häusern, die Sergej gesehen hatte. Alles, was man zerstören konnte, war zerstört worden, was man mitnehmen konnte, war entfernt worden. Die Räume hatten sich in gesichtslose Hüllen verwandelt. Selbst für jemanden mit reicher Fantasie war es schier unmöglich, sich vorzustellen, wie es früher hier ausgesehen haben mochte. Einige Fensterscheiben waren zerschlagen. Es zog im ganzen Haus.
Man führte sie einen langen Flur entlang, dann über eine wackelige Holztreppe in den ersten Stock. Die Wilden hörten auf, Schreie auszustoßen und gingen jetzt schweigend und zielstrebig voran. Die Plorg-Schädel schaukelten gleichmäßig auf ihren Schultern hin und her.
Im ersten Stock wurden die Gefangenen seltsamerweise wieder in die Gegenrichtung geführt. Am Ende des Ganges erreichten sie eine Tür – die einzige noch vollständig erhaltene. Sie war angelehnt. Hinter ihr führte eine lange Eisentreppe in die Tiefe, ins Dunkel.
Denis hing fast an seinem Vater, bewegte nur noch ab und zu die Beine. Wenn eines dieser Scheusale meinen Sohn
anrührt, dachte Sergej in tiefem, innerem Zorn, dann reiß ich ihm den Kopf ab …
Sie begannen den Abstieg. Max zog den Geigerzähler heraus, kontrollierte die Strahlung, setzte dann den Helm ab und schob das Atemschutzgerät nach hinten. Die anderen folgten seinem Beispiel. Augenblicklich stach ihnen ein heftiger Gestank in die Nase, der von ihren Begleitern herrührte. Auch die hatten angefangen, ihre primitiven Gasmasken abzusetzen.
Die Dunkelheit um sie herum verdichtete sich schnell. Sie gingen langsam und vorsichtig. Die Treppe knarrte. Von unten schlug ihnen warme Luft entgegen.
»Der Weg in die Hölle …«, murmelte Max.
Endlich spürten sie Betonboden unter ihren Füßen. Um sie herum herrschte ägyptische Finsternis. Sergej konnte keinerlei Gerüche wahrnehmen, da alles von dem scheußlichen Gestank der Kerle in ihren
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