Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Zustand hatte sich deutlich gebessert.
Erst gegen Morgen verzogen sich die Wilden in ihre Höhlen. Es schneite noch immer, aber der Wind hatte sich gelegt. Denis schlief unruhig, schrie im Schlaf, schien sich im Traum heftig mit jemandem zu streiten.
Es war noch dunkel, als sie sich auf den Weg machten. Sergej war die ganze Zeit in Sorge, dass der Junge von den durchlittenen Schrecken krank würde, und legte immer wieder seine Hand auf Denis’ Stirn. Aber der Junge hielt sich tapfer.
Sergej trug seinen Sohn. Max, der die ganze Zeit das Gewehr schussbereit in den Händen hielt, war beunruhigt: Er hatte nicht die geringste Ahnung, welche Richtung sie ansteuern sollten. Aber in dieser Frage half ihnen Denis weiter: Ab und zu wies er schweigend mit der Hand, wohin sie ihre Schritte lenken sollten.
Sie wanderten mehrere Stunden lang, manchmal bis zur Hüfte im Schnee, von dem in den vergangenen zwei Tagen reichlich gefallen war. Es wurde hell, aber der Tag war trüb und grau. Sergej trug Denis den ganzen Weg. Irgendwann spürte er, dass die unglaubliche Anspannung, die auf ihm gelastet hatte, nachließ. Die gefährliche Zone, das Stammesland der wilden Pygmäen, lag hinter ihnen.
Auf einmal war auch der Wald zu Ende. Am Waldrand stießen sie auf einen Weg oder zumindest das, was davon noch übrig war. Sergej blickte zurück. Dort im Dickicht, auf dem freien Feld dahinter, in der Stadt, in den Bunkern
unter der Militärhochschule blieb ein Teil seines Lebens zurück. Sie hatten Moskau erreicht, die Hauptstadt …
Waren sie wirklich angekommen?
Denis deutete wieder in eine Richtung.
Am Wegesrand und teilweise mitten auf der ehemaligen Straße erhoben sich Schneewehen unterschiedlicher Höhe. Max umrundete einige davon, berührte sie mit dem Gewehrlauf leicht, und als der Schnee abfiel, erkannten sie, dass es sich dabei um verrostete, verfallene Wracks von Bussen, Kleinbussen und Pkws handelte. Etwas weiter erhob sich eine breite, längliche Schneewehe, die sich als umgestürzte, entgleiste Straßenbahn erwies. Irgendwo hier mussten also Straßenbahnschienen sein. Wir sind also wirklich in Moskau, dachte Sergej.
Er erinnerte sich dunkel an diese Gegend. Vor langer, langer Zeit, als er noch an der Moskauer Staatlichen Universität studierte, war er mit einem Mädchen befreundet gewesen, das mit seiner Mutter an der Molostowych-Straße wohnte. Er konnte sich noch genau an Galina Wassiljewna, die Mutter des Mädchens, erinnern. Die alte Hexe hatte ihn nicht ausstehen können und ihn immer nur »Lustmolch« genannt. Sie hatte alles darangesetzt, die Beziehung ihrer Tochter zu ihm zu zerstören. Trotz dieser Anstrengungen waren Ljuda und er immerhin vier Jahre zusammen gewesen.
Als sie sich schließlich trennten, war Sergej so deprimiert, das er, ohne zu zögern, Wosnizyns Angebot annahm, nach der Verteidigung seiner Diplomarbeit in dessen Labor zu arbeiten und von Moskau weg aufs Land zu ziehen. Seine Eltern hatte er schon als Kind verloren, das Mädchen, das
er liebte, hatte ihn verlassen, daher hielt ihn nichts mehr in der Hauptstadt … Lustigerweise hatte er Polina nicht erst bei Wosnizyn kennengelernt, sondern schon davor, und zwar an der Leninka Ref. 27 , in der Schlange zur Bücherabgabe. Sie waren ins Gespräch gekommen, hatten aber keine Telefonnummern ausgetauscht, weswegen Sergej sich die größten Vorwürfe gemacht und sich für seine Schüchternheit verflucht hatte. Aber dann war er der Schönheit aus der Lenin-Bibliothek in Wosnizyns Labor wiederbegegnet. Keiner entgeht seinem Schicksal.
Jetzt erhob sich vor ihnen eine gesprengte Brücke.
Die schneebedeckten Bewehrungsstäbe ragten wie Stoßzähne vor ihnen aus dem gezackten Rand hervor. Es folgte ein gewaltiger Abgrund, und weit dahinter war durch den Nebel der gegenüberliegende Brückenkopf zu erahnen. Es sah aus, als wäre jemand Gigantisches mit seiner riesigen Pranke hier durchgestampft, hätte alles zerdrückt und verstümmelt, um dann zu verschwinden. Sergej wäre noch weitergegangen, um einen Blick über den abgerissenen Rand der Brücke in den Abgrund zu werfen, aber Max packte ihn an seiner verletzten Schulter und hielt ihn grob zurück, so dass Sergej das Gesicht vor Schmerz verzog und beinahe aufgeschrien hätte. Max bewegte seinen behandschuhten Finger warnend vor Sergejs Gesicht und machte eine Handbewegung: Wir gehen außen rum.
Der Junge glitt vom Arm seines Vaters und lief jetzt neben ihnen her. Weit und breit gab es kein Lebewesen,
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