Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
Zöpfen. Das große Feuer strahlte nur schwach bis in den Winkel, wo der Junge sich befand. Er begann zu frieren. Nach einiger Zeit trat einer der Wilden zu Denis und trennte mit einigen ruckartigen Bewegungen seines Messers die festen Seile der Fesseln durch, ohne den Jungen dabei zu verletzen. Denis’ Körper war jedoch inzwischen so taub geworden, dass er weder Arme noch Beine rühren konnte. Er hatte das Gefühl, dass sich Tausende kleiner und großer glühend heißer Nadeln in ihn hineinbohrten.
Ein anderer Wilder fuhr den ersten sogleich an, warum dieser den Gefangenen befreit hatte. Der antwortete, dass der Junge ohnehin nicht fliehen könne, wohin schon, und dass man ihn heil und gesund und unbeschädigt anbieten müsse, um einen guten Preis für ihn zu erhalten. Wieder begannen sie zu streiten: Der eine stimmte das alte Lied an, dass die Beute schleunigst aufgefressen werden sollte, ehe die Waldgeister ihnen auf die Spur kamen. Der andere hielt dagegen. Ihre Gesten wurden immer aggressiver. Denis, in dessen Körper das Blut allmählich wieder zu zirkulieren begann, fiel in einen Dämmerzustand …
Plötzlich erschien am Eingang der Höhle eine große Gestalt, die mit schmerzlich vertrauter Stimme fragte: »Verkauft ihr den Kleinen? Ich nehm ihn als Futter …«
Max wartete nicht, bis die Pygmäen zur Besinnung kamen. Die Höhle war ausreichend ausgeleuchtet, die Wilden gut
zu erkennen, daher feuerte er gezielt einige lautlose Schüsse auf seine Gegner ab. Er schoss mit Grischas Pistole, die er mit einem selbst gebastelten Schalldämpfer in Gestalt eines Lappens aus seinem Rucksack versehen hatte.
»Onkel Max …«, murmelte Denis mit schwacher Stimme, noch zu ängstlich, um wirklich an seine Rettung zu glauben.
»Schon gut, mein Junge, halt aus … Was willst du, du kranker Kerl?«, sagte Max wütend und streckte einen Wilden nieder, der mit einem Wurfspieß in der Hand auf ihn losgestürmt war.
»Tja, ist eben alles nicht so einfach in dieser komplizierten Welt … Eure Kollegen sind so schnell im Dickicht verschwunden, dass ich sie kaum gesehen habe.«
In der Tiefe der Höhle traf irgendetwas geräuschvoll auf dem Boden auf, es polterte, jemand fluchte.
»Na ja, ich hab sie schon bemerkt …«, sagte Sergej heiser, erhob sich und klopfte sich ab.
»Papa!« Denis’ Flüstern klang unglaublich laut.
»Wir wollen uns nicht streiten«, sagte Max nachgiebig. »Gut jedenfalls, dass wir uns nicht in der Adresse geirrt haben.«
Er warf Sergej die Pistole zu und zog einige Holzspeere unter dem Anzug hervor. Die von diesem energischen Auftreten überraschten Pygmäen blieben friedlich.
»Lass uns die Zeit nutzen, solange die Nachbarn hier noch nicht aufkreuzen und ›Überschwemmung Ref. 26 ‹ schreien. Nimm du deinen Sohn auf die Arme, und dann nichts wie weg von hier«, sagte Max zu Sergej, während er die Speere in die linke Hand nahm und mit der rechten das Gewehr
von der Schulter zog. »Und wehe, du verlierst das Bewusstsein! Eine zweite Chance kriegen wir nicht.«
Denis schüttelte seine Arme und Beine unbeholfen, wie ein Fisch auf dem Trocknen seine Flossen bewegt. Sergej zog seinem Sohn eilig den Schutzanzug an und hob ihn auf seine rechte Hüfte. Der Junge klammerte sich an seinen Hals.
Max blickte nach draußen.
»Der Wind pfeift nur so! … Gehen wir.« Er wandte sich wieder zur Höhle. »Danke, Leute. Nehmt Abschied.«
Mit diesen Worten warf er eine Handvoll Patronen ins Feuer.
Den Abend und die Nacht verbrachten die drei Flüchtlinge in jener Höhle, in die Max den verletzten Sergej am ersten Abend geschleppt hatte. Sie entfachten nur ein kleines Feuer, denn sie fürchteten, dass der Rauch sie verraten würde. Am Eingang hatten sie von innen Steine aufgehäuft und so etwas wie eine Schießscharte in diesem Schutzwall geschaffen, an der Sergej und Max im Wechsel Wache hielten. Wieder schneite es in dichten Flocken, was für sie von Vorteil war.
Sie wurden gesucht. Die Bäume ächzten und bogen sich unter den springenden und kletternden Pygmäen. Aber die Höhle blieb unentdeckt – sie war von außen nicht mehr als solche zu erkennen.
Ihr Essensvorrat neigte sich dem Ende zu. Max desinfizierte noch zweimal Sergejs Wunde und legte jedes Mal geschickt einen neuen Verband an. Sergej versuchte nicht
hinzusehen, wenn Max sich an seiner Verletzung zu schaffen machte. Insgesamt fühlte er sich besser, nicht zuletzt weil Denis wieder da war. Die Krise schien überwunden, und sein
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