Das Marmorne Paradies: METRO 2033-Universum-Roman (German Edition)
dennoch war Sergej innerlich darauf gefasst, jeden Augenblick auf feindliche Kreaturen zu stoßen. Doch nur die tote Stadt und der Schnee umgaben die Wanderer.
Rechts von ihnen, hinter einer Reihe großer Schneewehen – früher hatten sich hier Garagen befunden –, war ein Gleisbett zu erkennen. In Sergejs Erinnerung an das alte Leben war alles tatsächlich genauso wie jetzt. Links von ihnen erhoben sich Häuser mit toten Fenstern, einige waren halb zerstört und ohne Dach. Immer wieder passierten sie gewaltige Schneewehen in jetzt bereits vertrauten Formen, unter denen sich die Wracks von Bussen, Trolleybussen Ref. 28 und Pkws verbargen.
»Wie kommen wir am schnellsten zur Metro?«, fragte Max plötzlich unerwartet ärgerlich.
Sergej schüttelte den Kopf … und entgegnete seinerseits verärgert: »Du bist doch von hier mit einer wilden Karawane aufgebrochen! Also müsstest du dich daran erinnern!«
Max ließ sich nicht einschüchtern: »Ich erinnere mich an gar nichts! Und warum zum Teufel sollte ich das auch?!«
»Lüg nicht!«, schrie Sergej ihn an, ohne den angestrebten Effekt zu erzielen, denn der Helm dämpfte seine Stimme und entschärfte seine Wut. »Selbst wenn das Gift der Hummeln dein Gedächtnis eine Weile lang ausgeschaltet hat, inzwischen müsste es sich längst erholt haben.« Sie gingen weiter. Sergej schrie Max an, der in eine andere Richtung blickte und ihn nicht beachtete. »Du verheimlichst mir was, du treibst ein falsches Spiel und weichst mir aus!«
Denis zupfte seinen Vater am Ärmel, aber der machte eine abwehrende Bewegung. Sergej war überzeugt, dass jetzt der Moment der Wahrheit gekommen war. Er wollte unbedingt die Mauer des Schweigens durchbrechen, die Max trotz all dem, was sie miteinander durchgemacht hatten, noch immer aufrechterhielt.
»Seit du in der Kolonie aufgetaucht bist, ist alles den Bach runtergegangen! Mein Leben ist zusammengebrochen!«
»Jetzt übertreibst du aber ein bisschen, Bruder«, sagte Max und hob das Gewehr.
Sergej machte einen Satz rückwärts, aber der Gewehrlauf zielte an ihm vorbei, auf einen seltsamen Schneewirbel oder eine Art Nebelschleier, der knapp über dem Boden auf sie zukam. Denis tauchte hinter seinen Vater weg. Max feuerte eine Salve ab. Die seltsame Substanz wurde augenblicklich in alle Richtungen auseinandergeschleudert und zerstob in tausend Schneeflocken.
»Da … da war etwas …«, murmelte Sergej heiser.
»Gut beobachtet«, entgegnete Max trocken.
Sie erreichten den Anfang der Molostowych-Straße. Ljudmila und ihre Mutter hatten nur wenige Kilometer von hier gewohnt. Die Hausnummer wusste Sergej nicht mehr. Zur Rechten, weit hinter den Häusern, musste das Städtchen Reutow liegen – oder das, was noch davon übrig war. Direkt vor den Wanderern erstreckte sich ein verschneiter, mit Autowracks von Kleinbussen und Bussen übersäter nicht allzu großer Platz. Auf der gegenüberliegenden Seite erhoben sich einstöckige, halb zerstörte Gebäude. Dies war die letzte Haltestelle des öffentlichen Nahverkehrs, und Sergej erinnerte sich mit einer gewissen Genugtuung an eine Buslinie, deren Anfangs- und Endhaltestelle sich hier befunden hatte: die Nummer 792.
Auf einmal verspürte er den heftigen Wunsch, das Haus aufzusuchen, wo er mehr als drei Jahre regelmäßig zu Gast gewesen war. Durch jene Wohnung zu gehen, in der vermutlich nichts mehr so war wie früher, wo nicht einmal
mehr die Geister der Vergangenheit wohnten … Doch er begriff, dass sich das Haus zu weit entfernt befand und die Stadt nur auf den ersten Blick unbelebt war. Außerdem würde es bald dunkel werden …
»Was hast du vor?«, fragte Max misstrauisch. Er wandte den Kopf nach allen Richtungen, ehe er zielstrebig nach links losmarschierte. »Zur Station geht’s hier lang.«
Die Wohnhäuser zu beiden Seiten ihres Weges schienen das seltsame Trio schweigend zu beobachten. Sergej wusste nicht mehr, wie die Straße hieß, und an den Hausmauern war nicht ein einziges Schild erhalten. Wieder erhoben sich jede Menge Schneewehen auf ihrem Weg, die zerdrückte, zertrümmerte und umgestürzte Fahrzeuge verhüllten. Die drei Wanderer mussten ihnen ständig ausweichen. Wind war aufgekommen, aber fürs Erste war ihre Sicht noch unbeeinträchtigt. Einige Male ertönte von irgendwoher ein lautes, schneidendes Geräusch. Denis duckte sich erschrocken und packte seinen Vater am gesunden Arm. Max hob das Gewehr und blickte sich hastig nach allen Seiten um … Aber es drohte keine
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