Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
und seine Familie würden das arme Mädchen natürlich aufnehmen. Schließlich seien sie die nächsten Verwandten. Sie hätte ja sonst niemanden mehr. Und er selbst habe ja drei Kinder in ähnlichem Alter.
Die Stewardess bot Jacques einen kalten Orangensaft an.
Er nahm das Glas lächelnd und nippte daran.
Vor ihm lag sein Notizbuch, in dem er sich Stichworte zu Ibrahim aufschreiben wollte. Jacques bereitete sich auf jedes Gespräch, jede Vernehmung stets penibel vor. Zuerst würde er Ibrahim Rossi zu Kalila befragen, so als sei das der einzige Grund für seine Reise. Dann vorsichtig zu Ibrahims letztem Besuch in Paris. Schließlich die wesentliche Frage nach den Stunden vor seinem Abflug. Was hat Ibrahim in der Viertelstunde getan, in der vier Menschen im Wald von Ville-d’Avray erschossen wurden?
Und dann, der Gedanke an ein paar Tage Marrakesch wirkte entspannend, sackte er weg.
Nach einer Weile glitt Jacques zurück ins Dösen, hielt die Augen geschlossen und dachte an die Warnung, die ihm Margaux heute früh noch mit auf den Weg gegeben hatte.
Trau niemandem!
Trau wirklich niemandem. Ein Marokkaner erklärt sich wortreich zu deinem besten Freund, tut alles für dich, solange er sich etwas davon verspricht, aber dann würde er dich verkaufen, wenn es ihm nützte. Und wenn du ihn zur Rede stellst, wird er dich weinend umarmen und zur Not hinterrücks erdolchen. Und sich dafür auch noch bei deinem Leichnam mit Tränen entschuldigen.
Jetzt übertreib doch nicht, hatte Jacques geantwortet. Ich kenne ein paar äußerst kultivierte Marokkaner. Die sind mir lieber als so manch ein hintertriebener Franzose. Von denen ich einige Glanzexemplare der feinen Gesellschaft ins Gefängnis gebracht habe! Und dann hatte er gedacht: von wegen Lifestyle-Richter. Aber er hatte es nicht gesagt. Bloß nicht! Um des lieben Friedens willen.
Margaux hatte darauf beharrt.
Trau niemandem!
Ganz so schlimm ist es auch nicht, hatte ihn Kommissar Jean Mahon beruhigt, als sie vor der Taverne »Henri IV « auf dem Pont Neuf eine Tartine aßen und Jacques’ Reise besprachen.
Die Reise nach Marrakesch diente gleich zwei Überlegungen. War Schwager Ibrahim der Mörder? Oder betrieben Mohammed und sein in Marrakesch lebender Schwager Ibrahim ein Drogengeschäft? Dafür sprach, dass die Drogenroute aus Südamerika über Marokko nach Europa führte.
»Ich mache dir in Marrakesch einen Kontakt zu einer Marrokanerin, die für die französische Drogenfahndung arbeitet. Den kannst du gebrauchen.«
Ja, aber Margaux sagt: trau niemandem!
»Ganz so schlimm ist es auch nicht«, wiederholte der Kommissar, »das wirst du sehen, wenn du Jil triffst. Sie stammt aus einer besonderen Familie. Ihr Onkel war der General Oufkir, der als Innenminister König Hassan II . stürzen wollte und dafür mit seinem Leben bezahlte. Daraufhin wurde die Familie Oufkir länger als zwanzig Jahre unter Hausarrest gestellt. Du kannst dir vorstellen, dass Jil dem marokkanischen Königshaus gegenüber sehr kritisch ist. Und damit gegen die ganze herrschende Clique. Sie ist ein hervorragender Kontakt für dich.«
»Woher kennst du sie?«
»Vor gut zehn Jahren haben wir einen großen Ring von Drogenschmugglern aufgedeckt. Der Weg der Drogen führte von Südamerika über Mali und Marroko bis nach Frankreich. Und Jil arbeitet schon lange für die französische Drogenfahndung.«
»Offiziell?«, fragte Jacques.
»Natürlich nicht.«
»Arbeitet sie noch für andere?«
»Bei uns? Den Auslandsgeheimdienst? Nee. Aber vermutlich für die DEA in Washington. Da kann sie ihre Erkenntnisse über die Drogenmafia ein zweites Mal verkaufen.«
»Und was ist ihre Tarnung?«
»Offiziell betreibt sie das ›Riad Sultan‹. Ein Kleinod von Hotel mitten in der Medina. Acht Zimmer nur. Da haben wir dich auch untergebracht. So ist es logisch, dass du ständigen Kontakt zu ihr hast. Ihr Fahrer holt dich am Flughafen ab, denn allein findest du das ›Riad‹ nie.«
Die Wirtin des »Riad Sultan«
I m langen Innenhof des »Riad Sultan« sprudelte eine kleine Fontäne in der Mitte eines flachen Wasserbeckens, in dem Seerosen blühten. Jacques saß in einem bequemen Korbsessel, und Brahim, Jils Fahrer, brach einen frischen Stängel Minze von einem Busch, der im Blumenbeet neben der hohen Mauer wuchs und steckte ihn in das Teeglas. Dann goss er mit einer artistischen Bewegung aus einem Zinnkessel heißen grünen Tee hinzu.
»Vier Minuten ziehen lassen«, sagte Brahim in bestem
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