Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Französisch. Er trug einen kurzärmeligen dunkelblauen Kaftan, der ihm gut stand. »Madame Jil kommt bald. Ruhen Sie sich aus. Ich bringe Ihren Koffer in Ihr Appartement.«
Brahim kam noch zweimal, um den Tee nachzufüllen. Jedesmal betonte er, Madame Jil komme bald. Als es dunkel wurde, schien eine Geisterhand den Hof in dezentes Licht zu tauchen. Jacques hatte den Muezzin von einer fernen Moschee das Abendgebet rufen hören. Er wurde unruhig. Aber das hat auch keinen Sinn, sagte er sich. Mein nächster Termin ist morgen früh um 10 Uhr. Lass dich fallen. Aber das gelang nicht. Langsam bekam er Hunger.
Als Jil endlich zu ihm trat, reichte sie ihm die Hand, setzte sich und fragte: »Wie wäre es mit einem Whisky? Wir haben den Sonnenuntergang hinter uns.«
Jacques lachte: »Gern! Hat Jean Mahon Ihnen unser kleines Geheimnis verraten?«
Jil klatschte in die Hände. Brahim erschien an der Tür, sie bat um zwei Whiskys. Jacques musterte sie. Sportlich. Vielleicht 35 Jahre alt. Enge Jeans und ein schmales T-Shirt, unter dem sich die Brüste abzeichneten. Die langen schwarzen Haare trug sie zum Pferdeschwanz gebunden. Jil hätte auch als Französin durchgehen können. Ja, sogar als Pariserin, was eine Steigerung bedeutete. Die Pariserin verkörperte für Jacques wie keine andere die Essenz von Geschmack, Energie, Charakter und unabhängiger Eleganz.
»Sie sind hungrig«, stellte Jil fest, »wie müde sind Sie?«
»Ich habe im Flugzeug geschlafen. Bin also fit. Und Hunger? Das geht so.«
»Jean hat mir nicht viel gesagt, aber doch einiges angedeutet. Mein Vorschlag ist: Sie gehen jetzt duschen, und in einer Stunde nehme ich Sie mit in das absolute Jetset-Etablissement. »Comptoir Paris Marrakech«. Wenn wir einen guten Tag erwischen, dann sehen wir dort ganz Paris. Bernard-Henri Lévy treibt sich da rum, mal mit der Schauspielerin Arielle Dombasle, seiner Frau oder mit seiner Geliebten, der Guiness-Erbin Daphné! Strauss-Kahn ist ständig da, weil seine Exfrau hier ein phantastisches Anwesen besitzt, Sarkozy und Carla habe ich da ebenso gesehen wie Sarkos Ex, Cécilia mit ihrem neuen Mann.«
»Wenn Sie mich zur Bling-Bling-Gesellschaft zählen, schätzen Sie mich vielleicht falsch ein«, sagte Jacques, »ich bin eher der Typ für ein gemütliches kleines Restaurant.«
»Das kann ich gut verstehen. Aber ich will Sie mit einem Mann zusammenführen, der aus beruflichen Gründen dort regelmäßig verkehrt. Ein kritischer, wacher Journalist. Er sammelt Informationen, und das weiß jeder. Er dürfte auch für Sie interessant sein. Jean hat mir gesagt, Sie interessieren sich für ein Ingenieurbüro, das an der TGV -Strecke Tanger-Casablanca-Marrakesch-Agadir arbeitet.«
»Na ja. Ich interessiere mich aber eher für einen Ingenieur, der da arbeitet. Ibrahim Rossi. Kennen Sie ihn?«
»Nie gehört. Aber das hat nichts zu sagen.«
»Wir verdächtigen ihn, mit seinem ermordeten Schwager Mohammed in Drogengeschäfte verstrickt zu sein. Zumindest waren sie früher Dealer in der Banlieue.«
»Und jetzt ist er Ingenieur?«
»Ja, an der TGV -Strecke.«
»Im Drogengeschäft würde er mehr verdienen. Er ist mir bisher nie aufgefallen. Aber vielleicht sind das nur kleine Fische im Endgeschäft. Ich kümmere mich hier eher um den großen Transport. Und was den Bau der Schnellstrecke angeht, der ist in Marokko nicht unumstritten. Da kann Ali Ihnen einiges erzählen, was nicht in den Zeitungen steht. Treffen wir ihn an Ihrem ersten Abend hier im ›Comptoir‹, dann wirkt es wie Zufall. Aber was denkt der Geheimdienst, wenn wir uns wenige Stunden nach Ihrer Ankunft mit einem als kritisch bekannten Journalisten in einem kleinen Restaurant verabreden? Das passt vielleicht zu Ihnen. Aber das passt nicht zu dem Journalisten. Und erst recht nicht zu mir. Ich bin in Marrakesch die Besitzerin eines kleinen, feinen ›Riad‹, die aus zwei Gründen am Nachtleben teilnimmt: Weil es ihr angeblich Spaß macht und weil es gut ist für’s Geschäft. Das versteht jeder.«
»Ich dachte unter Mohammed VI . sei das Land demokratischer geworden. Muss man vor dem Geheimdienst immer noch Angst haben?«
»Sie vielleicht weniger. ›M 6 ‹, wie das ihn liebende Volk seinen König nennt, achtet darauf, dass Ausländern nichts geschieht. Schlechte Presse vertreibt Touristen. Aber ich habe meine Lektion gelernt. Ich habe die ersten zwanzig Jahre meines Lebens wie im Gefängnis gelebt. Mein Onkel war …«
»Ich weiß.«
»Ich weiß nicht, ob
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