Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Sie sich vorstellen können, was es bedeutet, wenn Sie nie Ihr Haus verlassen können. Nie! Der Geheimdienst war und ist auch heute noch überall. Alles wird abgehört. Hier sagt wirklich niemand am Telefon irgendwas Wichtiges. Noch nicht einmal, wenn Sie mit Ihrer Bank über Kreditzinsen sprechen. Das hat der Journalist, den wir treffen werden, immer wieder erfahren und manchen Monat im Gefängnis verbracht und dort seine Prügel bezogen. Das hat ihn allerdings in seiner kritischen Haltung motiviert. Also: seien wir vorsichtig.«
Ali Baba
J acques wunderte sich, dass Martine ihm das »Comptoir« empfohlen hatte. In Paris würde sie sich den Besuch eines solchen Luxustempels nie leisten. Und er würde freiwillig auf so einen Besuch verzichten. Schon bei dem pompös gestalteten Eingang mit der orientalisch geschnitzten Doppelpforte standen neben riesigen gelben Rosensträußen zwei gediegen gekleidete Angestellte, die ihm vor Vornehmheit Unbehagen einjagten.
Jil begrüßte sie mit Handschlag und Namen und bat den Maître d’hôtel um einen Tisch für zwei gegenüber der großen Treppe, die nach oben führte.
Warum nur zwei? Treffen wir uns nicht mit jemandem?
Jil machte eine Handbewegung, um Jacques zu bremsen. Ali kommt erst später, flüsterte sie ihm zu, unser dritter Mann. Wir setzen uns dann raus in den Patio.
Hätte nicht ein Mann mit seiner Flöte den Lautenspieler zu orientalischen Klängen begleitet, hätte sich Jacques auch irgendwo auf der Welt in jedem beliebigen Luxushotel befinden können. Überall das gleiche Design: dunkle Holztische, bequeme Sessel, gedämpftes Licht. Hohe Decken.
Marokkanische Küche oder international? Jacques meinte, wenn er schon in Marrakesch sei, dann doch bitte etwas von hier. Zitronenhuhn? Oder ein Mechoui? Jil sprang sofort auf das Zitronenhuhn an. Da blieb Jacques nur das Mechoui.
Es war gegen zehn Uhr. Ob das nicht zu schwer im Magen liege, so spät am Abend?
»Unser Lamm ist in einem traditionellen Erdbodenofen gegart, unglaublich zart und leicht. Machen Sie sich keine Sorgen, Monsieur.«
Jacques schaute Jil an und fragte: »Wein?«
»Gern. Einen Roten«, sagte Jil. »Aber lassen Sie mich aussuchen. Was ziehen Sie vor?«
»Bordeaux. Wenn es geht.«
»Echter Bordeaux ist hier horrend teuer. Ich trinke immer einen Château Roslane, der wächst in der Gegend von Meknès am Fuß des Atlas. Er kommt dem Bordeaux nahe.«
»Gute Wahl«, bestätigte der Sommelier, der genauso gut in ein Pariser Dreisternerestaurant gepasst hätte.
Jil erzählte von den Drogenkurieren, die durch Marokko kamen. In den vergangenen Jahren hatte die chinesische Triade 14 K sich den afrikanischen Weg freigeschossen. Keiner ist brutaler als die Chinesen.
»Die sind auch in Frankreich aktiv«, sagte Jacques. »Die landen in Roissy mit gefälschten Kreditkarten aus Hongkong, kaufen in Paris an einem Tag für hundertfünfzigtausend Euro ein und fliegen schon wieder zurück, bevor der erste Karteninhaber es überhaupt bemerkt hat.«
Schließlich wollte Jil genauer wissen, was ihn nach Marrakesch führe.
Also begann Jacques in groben Zügen seinen Fall zu schildern. Er verschwieg, dass einige Indizien auf Ibrahim als möglichen Täter hinwiesen, aber er erzählte von dem Mädchen, das sich sechs Stunden in dem Wagen mit den Leichen seiner Eltern versteckt hatte.
»Mein Gott! Das Kind muss doch einen Schaden für sein Leben erlitten haben«, rief Jil und versuchte ihre Gefühle zu unterdrücken. »Ich weiß aus eigener Erfahrung, welche … Ach, lassen wir das.«
Sie nahm einen Schluck Rotwein, als lautes Getöse ihr Gespräch übertönte. Ein halbes Dutzend schlanker Bauchtänzerinnen schritt auf einem Bett von Rosenblättern die breite Treppe, ihnen gegenüber, herab. In einer Hand balancierten sie je eine Kerze, in ihrer Mitte leuchteten zwölf Kerzen auf dem Kopf einer Tänzerin, die sich, unten angekommen, aus dem Kreis der Tanzenden löste und zwischen den Tischen wie ein Derwisch mit schnellen Drehungen herumwirbelte.
Es war kurz vor Mitternacht, als Jil vorschlug, in den Patio, in dessen Mitte ein alter Baum stand, zu wechseln. Auch hier war es rappelvoll, hauptsächlich mit jungen lärmenden Menschen, doch Jil hatte vorgesorgt und in einer Ecke einen Tisch für vier Personen reserviert.
Sie schickte eine SMS , und fünf Minuten später traten ein Mann in weißem Kaftan und eine Frau an den Tisch. Sie begrüßten Jil mit großem Lärm und Umarmungen, und die bot ihnen mit einer
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