Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
Hochzeitsfests im »Le Pacifique« wegen des Überfalls der Afrikaner fluchtartig aufgebrochen waren, hatte Linda sich plötzlich in der Küche wiedergefunden. Der Drachenmeister hatte geschossen. Gao Qiu nahm ihm die Pistole ab, wickelte sie in ein Handtuch und versteckte das Päckchen unter seiner Jacke auf dem Rücken zwischen Hemd und Gürtel. Dann packte er Linda an der Hand und zog sie mit. Über den Keller kamen sie zu einem Hinterausgang in die kleine Allee Gabrielle d’Estrées, die durch ein eisernes Gittertor von der Straße geschützt war. Zwischen drei Wohnblocks schlängelten sie sich hindurch bis um die nächste Ecke, und dann traten sie schon durch die rote Eingangstür in sein Haus.
Am frühen Morgen löste er sich von ihr, zog sich an und murmelte, er sei in einer Stunde zurück.
Er musste die Pistole loswerden.
In der Seine findet man immer wieder weggeworfene Waffen, aus der Kanalisation werden sie irgendwann ausgespült. Vergräbt man sie in einem Park oder im Wald, buddelt ein Hund genau an der Stelle.
Gao Qiu nahm sich vor, unter der Granitumrandung des Grabes von Edith Piaf auf dem Friedhof Père Lachaise, der nur wenige Straßen entfernt lag, ein Loch zu graben, die Luger hineinzulegen und den Kies wieder drüberzuhäufen. Dort würde nie jemand nachschauen. Doch als er über die Mauer des Friedhofs geklettert war, sah er die hohe Kuppel des Krematoriums vor sich, und da kam ihm eine noch bessere Idee. Er hangelte sich an dem alten Gebäude hoch bis zu einem der beiden Kamine und hängte die Pistole an einer dicken Schnur nach innen. Hier würde niemand je nachschauen. Und wenn die Schnur nach langer Zeit mürbe würde, dann fiele die Luger in die Brennkammer des Krematoriums, wo sie unter der enormen Hitze zerbröselte.
Linda hatte fest geschlafen, als Gao Qiu zurückkam. Er brachte frische Croissants mit und brühte Kaffee auf. Von dem Geruch wachte sie auf. Sie war die erste Frau, die bei ihm übernachtete, und die er nicht bezahlen musste.
Die Aufzugstür öffnete sich in der siebten Etage mit einigem Rumpeln.
Gao Qiu hatte die Wohnungstür für Linda geöffnet und war wieder ins Bett gekrochen. Heute früh würde sie den Kaffee aufbrühen.
Er war erst gegen ein Uhr aus dem »Le Pacifique« gekommen. Als alle Angestellten gegangen waren, hatte er die Kugel aus dem Türpfosten in der Küche herausgeschnitten. Die Polizisten hatten den Einschuss übersehen. Gott sei Dank. Sie hätten das Projektil mit den Kugeln aus dem Wald von Ville-d’Avray verglichen. Das Loch hatte er dann verkittet und weiße Farbe darübergemalt. Jetzt brauchte er schnell eine neue Waffe. Obwohl man nicht für jeden Auftrag eine Pistole braucht, um ihn auszuführen.
Linda schaute ins Schlafzimmer. Gao Qiu schlief fest. Sie zog die Tür leise zu, ging in die Küche, füllte den Wasserkessel und stellte ihn auf die Gasflamme. Sie häufte sechs Löffel Kaffee in den Filter, deckte zwei Teller, machte Reissuppe in einem kleinen Topf auf niedriger Flamme warm, hackte Schnittlauch und legte ein frisches Baguette in den geflochtenen Brotkorb.
Die Wohnung ist groß genug für drei. Der Gedanke ging ihr durch den Kopf. Ob Gao Qiu ein guter Vater sein würde? Auf jeden Fall schien er gute Gene zu haben. Sportlich und blitzgescheit. Wenn, dann sollte es ein Junge sein.
Erst nachdem sie gefrühstückt hatten, fragte Gao Qiu: »Und? Hast du was erfahren?«
»Ja, habe ich«, sagte Linda. Sie war stolz. Denn es war nicht einfach gewesen rauszubekommen, dass Kalila nicht mehr im Krankenhaus betreut wurde. Zwar hielt ein Polizist rund um die Uhr Wache vor einem Zimmer auf dem Stockwerk des Chefarztes, aber nicht wegen des Mädchens. Die Kinderpsychologin Sophie, rechte Hand des Chefs, habe das Mädchen mit zu sich nach Hause genommen.
»Und wo wohnt Sophie?«, fragte Gao Qiu.
»Das habe ich noch nicht erfahren. Ich darf auch nicht zu neugierig sein. Kennst du nicht irgendeinen Weg, um das rauszukriegen?«
Gao Qiu schwieg und schaute aus dem Fenster.
»Machen wir einen Wettbewerb. Mal sehen, wer es zuerst weiß. Okay?«
Der geplatzte Termin
I m Souk verstand Jacques, was Lady Macbeth meinte, als sie klagte, selbst die Wohlgerüche Arabiens würden ihre blutbesudelten Hände nicht reinigen. Die Wohlgerüche Arabiens betäubten ihn. Er meinte, es könnten Zimt, Jasmin, Weihrauch sein, die seine Nase kitzelten.
Brahim führte Jacques durch die engen Gassen der Medina, zeigte ihm den Instrumentenbauer als
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