Das Matrazenhaus
und daran, dass sie immer wieder davon sprach, ein Musiker müsse um sein Leben spielen, wolle er wirklich glaubwürdig sein.
»Ist dein komisches Gefühl weg?«, fragte Leonie Wittmann, bevor sie auseinandergingen. Er horchte eine Sekunde in sich hinein, dann schüttelte er den Kopf. Es habe vermutlich mit seiner etwas zwanghaften Schottland-Fixierung zu tun, sagte er, mit sonst gar nichts.
Der grauhaarige Mann erwartete ihn vor dem Treppenabgang. »Possner«, sagte er, »Armin Possner.« Horn solle sich nichts draus machen, er habe offenbar einen Namen, der ständig vergessen werde; er kenne den Blick der Leute inzwischen, manche sagten dann Possnik oder Posch . Seine Firma habe er Apollo genannt, A von Armin und Po von Possner, Apollo Personalleasing , damit hätten die Menschen weniger Schwierigkeiten. Herr Apollo komme daher auch gelegentlich vor. Es sei ihm klar, dass er besser anrufen hätte sollen, er entschuldige sich für sein Versäumnis, aber er brauche einen kurzen Rat.
Horn betrachtete den Mann, den akkuraten Haarschnitt, die geputzten Schuhe und den mehrfach gefalteten Notizzettel. Eine schizophrene Ehefrau, die in Graz behandelt wird, fiel ihm ein, und dann fragte er sich plötzlich, ob alle Krawatten von links oben nach rechts unten gestreift waren.
Seine Tochter sei am Vortag verschwunden, sagte der Mann, einfach weg, wie ein Phantom, ohne irgendetwas zu hinterlassen, einen Hinweis oder eine Botschaft. Sie sei dreizehn und während des letzten halben Jahres sehr schwierig gewesen – er habe das zuletzt kurz angedeutet. Was feststehe, sei, dass sie aus seinem Büro Geld genommen habe, mehrere tausend Euro, was aber nicht die Hauptsache sei, denn gestohlen habe sie schon die ganze Zeit. Mehr Sorge bereite ihm, was sie ihm und seiner Frau in einer geradezu manischen Fixiertheit vorgeworfen habe: dass sie sie damals in Wahrheit nicht in Pflege genommen, sondern ihren indischen Eltern abgekauft hätten, dies in erster Linie zum Zweck der kurzfristigen Weitervermietung – so habe sie es genannt. Er selbst versuche sich nicht zu ärgern, sondern an die Traumen ihrer Kindheit zu denken, an die Waisenhausjahre und an die Zeit auf der Straße, was auch immer ihr dort widerfahren sei. Er komme auf diese Weise mit ihrem Verhalten halbwegs zurecht, seine Frau hingegen sei völlig durch den Wind, schlafe nicht mehr, spreche mit dem Fernseher und behaupte seit dem Vortag, ihre Tochter sei mit Sicherheit tot.
»Wie heißt sie?«, fragte Horn.
»Wer? Meine Frau?«
»Nein, Ihre Tochter.«
Fanni, sagte der Mann, seine Pflegetochter heiße Fanni. Anfangs sei sie ein ruhiges, angepasstes Mädchen gewesen, doch das habe sich sukzessive geändert. Jetzt sehe er sich allein nicht mehr raus und wolle die Sache dem Jugendamt melden, die Abgängigkeit und die Vorwürfe, die von ihr zu erwarten seien. Das sei das Erste, worum er ihn, Horn, habe bitten wollen – ihm eine Kontaktperson am städtischen Jugendamt zu nennen, jemanden, dem man so eine Geschichte gefahrlos erzählen könne. »Gefahrlos?«, fragte Horn. »Sie wissen schon«, sagte der Mann, »ohne die üblichen Ressentiments.« Es handle sich schließlich um ein ausländisches Mädchen, das ziemlich exotisch aussehe. Was nicht einmal in Furth ein Problem darstellen dürfe, sagte Horn. »Ihr Wort in Gottes Ohr«, erwiderte der Mann.
»Und das Zweite?«, fragte Horn. »Würden Sie sie behandeln?«, fragte der Mann.
»Sie ist ja nicht einmal da.«
»Wenn sie dann da ist – würden Sie sie behandeln? Sie ist wirklich verrückt. Sie müssen mir glauben.«
Der Mann sah erschöpft und ängstlich aus. Manchen Menschen bürdete das Schicksal eine schizophrene Ehefrau auf, zusätzlich eine Pflegetochter, die von zu Hause weglief, und sie schafften trotzdem messerscharfe Bügelfalten an ihren Hosen. Horn blickte hinab auf die ausgebeulten Knie seiner Jeans und dachte daran, dass Tobias Eier zerdrückte, Katzen entführte und Kraftfahrzeuge widerrechtlich in Betrieb nahm. Dann dachte er an Irene, die in manchen Phasen kaum schlief, unter Garantie mit ihrem Cello sprach und immer wieder den Tod ihrer Söhne vor sich sah. Trotzdem hatte er es gut erwischt, eindeutig.
»Welche Art von Personal kann man eigentlich bei Ihnen leasen?«, fragte er. Der Mann blickte ihn überrascht an, dann lächelte er. In erster Linie Bauarbeiter, sagte er, Maurer, Zimmerleute, Kranfahrer, auch in großem Umfang, wenn es nötig sei, mehrere hundert auf einmal. Er habe
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