Das Matrazenhaus
weniger schädlich, als sie selbst glaubt«, sagte er. Gerlinde Schäfer blickte ihn zweifelnd an. »Und sie wird nicht sterben?«, fragte sie. »Nicht jetzt«, sagte er.
Sie hängten Margot Frühwald an den Clonazepam-Tropf und verabreichten ihr ein Entwässerungsmittel zur Hirnödem-Prophylaxe. Dann griff Horn zum Telefon und ließ sich mit der neurologischen Überwachungsstation verbinden. Zwei Betten waren frei.
Dolores saß im Sozialraum auf Christinas Schoß und stopfte einen Briochezopf in sich hinein. »Bist du nicht zu schwer für deine Mutter?«, fragte Horn. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Sie quält Christina jedes Mal, wenn sie hier sein darf«, sagte Karin. »Nein!«, protestierte Dolores und prustete dabei eine Wolke Brösel und Hagelzucker in den Raum. »Doch«, sagte Horn. Sie trat nach ihm. In fünfzehn Jahren wird sie den Führerschein machen und auf der Autobahn hundertsechzig fahren, dachte er. »Nein«, sagte Dolores. »Wird sie nicht«, sagte Christina. Wenn ich zu früh geweckt werde, ist es am schlimmsten, dachte Horn und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Schickst du sie nach Hause?«, fragte Christina. »Die Schäfer? Nein. So etwas muss sie aushalten. Außerdem vertragen sich Ehrgeiz und Schonung nicht«, sagte Horn. Er sei brutal, sagte sie. Sei er nicht, erwiderte er, und wie er den Herrn Kollegen Hrachovec kenne, werde er sich augenblicklich um die Arme kümmern, wenn er um acht daherkomme. »Der Held im weißen Mantel«, sagte Christina.
»Der das schwache Weib rettet.«
Das funktioniere offenbar immer noch, sagte sie – es sei denn, das schwache Weib habe ein behindertes Kind, dann werde die Zahl der Helden übersichtlich. »Noch eins«, sagte Dolores und griff nach einem zweiten Briochezopf.
Sie hat ein behindertes Kind und ihren Richard, dachte Horn, von einem Helden keine Spur. Richard Gassner aus der EDV-Abteilung war definitiv kein Held. Er war klein, bärtig und schüchtern und besuchte Christina ab und zu, um mit ihr zu schlafen. Ansonsten ließ er sie in Ruhe. Das sei ihr das Wichtigste, sagte sie.
Bei der Morgenbesprechung saß Gerlinde Schäfer eng neben Hrachovec. Sie schien sich beruhigt zu haben. Abgesehen vom Zwischenfall mit Margot Frühwald gebe es aus dem Dienst noch zwei berichtenswerte Dinge, sagte sie. Erstens habe man mitten am Nachmittag Sabrina völlig nackt in Marcus’ Zimmer angetroffen. Ihm sei das offenbar ziemlich peinlich gewesen und er habe beteuert, es sei eh nichts passiert. Sie hingegen habe gesagt, sie wolle schon seit längerem ein Kind und habe sich daher die Gelegenheit nicht entgehen lassen können. Was wirklich geschehen sei, könne keiner sagen, denn Sabrina habe genialerweise die Optik der Überwachungskamera vorher mit Nagellack überpinselt. »Verhütet sie?«, fragte Horn. Niemand wusste es. »Verhütet er?«, fragte Leonie Wittmann. Er könne sich nicht vorstellen, dass jemand, der vor kurzem mit der Schlinge um den Hals von der Decke gefallen sei, an Verhütung denke, sagte Horn. Genauso wenig wie eine junge Frau, die regelmäßig ihre Haut mit Rasierklingen penetriere, sagte sie.
Apropos Schlinge, sagte Gerlinde Schäfer, das zweite Berichtenswerte sei Marcus’ Abschiedsbrief. Eine Kriminalpolizistin, die behauptet habe, sie sei vor kurzem mit Felix Szigeti und Britta Kern an der Abteilung gewesen sei, habe ihn vorbeigebracht. Genau genommen sei es der Ausdruck einer E-Mail, die Marcus an seinen besten Freund gerichtet habe. Sie habe das Schreiben der Krankengeschichte beigelegt. Bei jenem Freund handle es sich um Florian Weghaupt, einen jungen Mann, der unlängst durch einen Sturz von einem Fassadengerüst zu Tode gekommen sei. Sogar das Fernsehen habe darüber berichtet. Der Brief sei voller Vorwürfe der Welt gegenüber und offenbar zu einem Zeitpunkt geschrieben worden, zu dem Weghaupt bereits tot gewesen sei. Er beginne mit dem Satz: Flo, du warst immer schon der Konsequentere von uns beiden. Mehr habe sie sich nicht gemerkt.
Horn dachte an Tobias und seine Variante von Konsequenz, an den Zusammenhalt zwischen Brüdern und an ein neues Auto. Dann dachte er an den frühen Morgen, an das weiße Licht im Stall, an das Rascheln des Marders in der Dachisolierung und daran, wie Irene an seinem Schlüsselbein genagt hatte. »Magst du Barockmusik?«, raunte er Leonie Wittmann zu. »Nicht so besonders«, antwortete sie, »warum?« »Einfach so«, sagte er.
Sie waren dabei, über jene Menschen zu sprechen, die sich
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