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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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Probens seien völlig für die Katz gewesen, nicht zu reden von der Arbeit des Textens und Komponierens. Der Mann habe sie nicht einmal vorspielen lassen, sondern gesagt, die Demo-CD genüge ihm, auf Wiedersehen. »Und ein paar Tage später ist Florian runtergefallen«, sagte Herbert. Ja, damit sei für ihn dann alles vorbei gewesen, sagte Marcus, er habe die Welt wahrgenommen, als betrachte er eine Reihe von Videoclips, mit denen er nichts mehr zu tun habe, und aus diesem Zustand heraus habe er den Brief an Florian geschrieben, an den einzigen Menschen, der ihm wirklich etwas bedeutet habe. »Und dann …«, sagte Herbert. »Habe ich mich aufgehängt«, so einfach sei das. Er sei in den Keller gegangen, mitten in der Nacht, zur ruhigsten Zeit, habe mit dem Holzbeil ein Stück von einem alten Kletterseil gehackt, drei, vier Meter vielleicht, und eine Schlinge geknüpft. Er habe keine Ahnung, von wem das Seil stamme; es hänge schon ewig dort rum, und nein, seine Mutter sei seines Wissens nie klettern gegangen, genauso wenig seine diversen Stiefväter. »Diverse Stiefväter?«, fragte Horn. Vier seien es bis jetzt gewesen, sagte Marcus, den letzten gebe es seit zweieinhalb Jahren. Sein leiblicher Vater sei unmittelbar nach seiner Geburt nach Südtirol abgehauen, woher er ursprünglich stamme, aber das alles habe er schon zirka hundertmal erzählt. Horn sah plötzlich all die Fragen, die in diesem Moment zu stellen gewesen wären, vor sich wie auf einer Schultafel: Haben Sie versucht, zu ihrem Vater Kontakt aufzunehmen? Wie stellen Sie ihn sich vor? Haben Sie ein Foto von ihm? Zu welchem ihrer Stiefväter hatten Sie die beste Beziehung? Treffen Sie ihn noch? Hat Sie der erste Stiefvater geschlagen? Der zweite? Der dritte? Der vierte wohl nicht mehr. Er kam sich total lächerlich vor und fragte nur eins: »Warum unter dem Luster?« Marcus Lagler drehte erneut die Augen zur Decke, dann blickte er Horn an. Es sei irgendwie kindisch, sagte er, aber er habe sich das schön vorgestellt: Die Mutter drücke auf den Schalter und er hänge ganz friedlich da, das Licht über seinem Kopf wie ein Heiligenschein.
     
    Manchmal hatte Raffael Horn mitten am Tag Lust auf Alkohol, das beunruhigte ihn. Wenn es im Team Konflikte gab, war das so, wenn Irene eine ihrer unnahbaren Phasen hatte und wenn ihm Krenn, der kaufmännische Direktor, mit Personalkürzungen drohte. Darüber hinaus existierte noch diese seltsame psychische Fläue, das Gefühl, etwasWichtiges übersehen zu haben, ohne dass in der Realität etwas vorhanden gewesen wäre, das man übersehen hätte können. Du spinnst, sagte er zu sich selbst, die Welt ist nicht mehr, als was sie ist. Trotzdem war er in diesen Situationen froh, kein Bier zur Hand zu haben und keinen Schnaps. Er ging zur Wasserleitung und trank, bis ihm der Magen wehtat. Dann öffnete er das Fenster, in der Hoffnung, etwas Starkes zu riechen, Flieder zum Beispiel oder fauliges Schilf. Er roch jedoch nichts.
    »Die Welt ist immer mehr, als was sie ist«, sagte Leonie Wittmann und lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand. Ab und zu passierte das: Nach der Visite lehnte sich jemand gegen die Wand, es formierte sich eine Gruppe, und direkt aus der Alltagsroutine heraus wurden sonderbare Sätze gesagt. Ob das mit der Welt nicht banal sei, fragte Hrachovec, und Leonie Wittmann sagte, einerseits schon, aber andererseits sei das Banale auch das wirklich Entlastende, zum Beispiel die Erkenntnis, dass man nie alles erfasse und immer etwas übersehe, oder eben, dass jedes Konkrete zugleich auch etwas Symbolisches sei, die Schlinge, die vom Lusterhaken baumle, der Schnitt in die eigene Haut oder der nackte Körper, den man dem anderen präsentiere. Oder die Ohrfeige, die man einem Kind gibt, dachte Horn. »Genau«, sagte Wittmann.
    Sie sprachen über die Metaphorik des Körpers, über die Frage, wie man ein Kind behandeln müsse, damit es sich später selbst verletzte, und über die lustvolle Vorstellung, Sabrinas Vater die Faust ins Vordergebiss zu dreschen. Am Ende sprachen sie über unbewusste Motive hinter der Wahl eines Musikinstruments, Hrachovec sagte, seiner Ansicht nach dürfe Musik nie der Grund für einen Suizidversuch sein, und Herbert erwiderte, daraus spreche das romantische Pathos des absolut Ahnungslosen. Musiker brächten sich ständig um, vor allem Gitarristen, und eigentlich erwarte man es von ihnen geradezu. Horn dachte an die Durchlässigkeit seiner Frau, an ihre roten Wangen, wenn sie übte,

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