Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
fallen. Als würde ich nie wieder ein Gewitter in mir haben. Wenigstens waren Gewitter mit Fühlen verbunden.
»Du hast den Ärzten gesagt, du seist nicht verletzt. Haben sie etwas übersehen?«
»Ich wünschte, ich wäre verletzt.« Ich legte mir eine Hand auf die Schulter und massierte die Muskeln. Immer noch empfindlich. Es wäre klug gewesen, einen Arzt einen Blick darauf werfen zu lassen, aber dann hätten sie mich Sam weggenommen. Nicht, dass ich ständig an ihm hing, seit wir wieder hier waren.
Ich hielt den Blick auf meine Füße geheftet.
»Kannst du mir sagen, was passiert ist, nachdem du vom Gefängnisfenster verschwunden bist?«
»Änderte das etwas?«
Er zögerte, und ich stellte mir die Falte zwischen seinen Augen vor, während er über die beste Möglichkeit nachdachte, die Wahrheit zu sagen. »Vielleicht. Wenn du nicht darüber reden möchtest, gibt es an dieser Entscheidung nichts auszusetzen. Ich würde es gern wissen. Es würde mir helfen zu wissen, womit wir es zu tun bekommen werden.«
»Was wird mit Menehem geschehen, wenn er wiedergeboren wird?«
»Das ist schwer zu sagen. Ich schätze, man wird ihn für mindestens ein Leben einkerkern. Wahrscheinlich mehr, wenn man bedenkt …« Sam blickte in das Wohnzimmer. »Ich bin mir sicher, dass sie wissen werden wollen, wie er es gemacht hat.«
»Er wollte es mir erzählen.«
All diese Menschen, für immer von uns gegangen. Wo waren sie hingegangen?
Meine Stimme klang so hohl wie der Rest von mir. »Er dachte, ich würde es begrüßen, was er getan hatte. Ciana zu opfern, damit ich geboren werden konnte. Dass er Altseelen während des Tempeldunkels für weitere Neuseelen geopfert hat. Aber
das tue ich nicht. Ich meine, ich wäre vermutlich lieber hier als nicht hier, doch ich habe diese Meinung eben, weil ich hier bin.«
Sam berührte meine Hand. »Gestern hat Sarit einen Umschlag abgegeben. Sie ist zu Lis Haus gegangen, um deine Sachen zu holen, bevor der Rat sie nehmen würde.«
»Was ist in dem Umschlag?«
»Ich habe nicht reingeschaut. Es steht dein Name drauf. Menehems Handschrift.« Sam sprach mit leiser Stimme. »Willst du ihn sehen?«
Definitiv nicht. Aber ich stand auf und folgte ihm in sein Zimmer und machte mir aus seinen Decken ein Nest. Er holte den großen Umschlag aus einem Bücherregal.
Er enthielt schmale, ledergebundene Tagebücher voller Notizen und chemische Formeln, Zeichnungen und Fotografien von Sylphen und eine Karte von irgendeinem Gebiet östlich des Reichs. Das war der Ort, an dem er seine Nachforschungen angestellt hatte, vermutete ich. Ich steckte alles weg. Es würde Zeit brauchen, sich alles genau anzusehen, aber Menehem hatte mir erzählt, wie er schließlich doch so viele Seelen zerstört hatte.
Und wie mir die Chance auf das Leben einer anderen gegeben worden war.
Ich schob den Umschlag beiseite und rutschte näher an Sam heran. Er legte die Arme um mich, küsste mich auf den Kopf und flüsterte: »Du hättest nicht die ganze Woche unten schlafen müssen.«
»Stef war hier.«
Er zog eine Schulter hoch.
Vielleicht konnte er nicht verstehen, wie peinlich es gewesen wäre zu wissen, dass seine beste Freundin und Gelegenheitsgeliebte drei Zimmer weiter schlief. Nach mehreren Leben
der Peinlichkeit waren sie wahrscheinlich unempfindlich geworden. Ich legte die Wange an seine Brust und lauschte auf seinen Herzschlag, während er mir übers Haar strich.
»Ich kann dir sagen, was passiert ist«, sagte ich schließlich. »Aber sonst niemandem. Noch nicht.« Ich zeichnete seine Finger nach, die mich festhielten. »Sie würden mir nicht glauben. Ich will auch nicht, dass sie von Meuric erfahren. Ich werde es irgendwann verstehen müssen, aber jetzt …«
»Okay.« Er führte mich zu seinem Bett, damit wir uns setzen konnten. »Sag nur das, womit du dich wohlfühlst, das reicht.«
Ich erzählte ihm alles.
Das allgegenwärtige Licht. Die Treppen und Bücher und die gefühllose Stimme. Und Meuric. Wenn ich schlief, träumte ich von meinem Messer, dem Platzen und Spritzen und Schmatzen, von der Art, wie ich seinen zuckenden Körper in die Grube getreten hatte.
Ich hatte ihn getötet, war bereit gewesen, Li und Menehem zu töten. Erst achtzehn, und schon fühlte ich mich, als wäre ich tausend Jahre alt. Ich hätte froh sein sollen, dass Li niemals zurückkommen würde, egal, wie viele Leben ich lebte, aber ich war es nicht. Es ergab keinen Sinn, doch wenn ich zu viel darüber nachdachte, klafften die
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