Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
eine seelenlose Tochter zu haben, war zu groß gewesen, als dass er hätte bleiben können, und Li hatte mir die Schuld gegeben – an allem. Sie hatte sich nur deshalb um mich gekümmert – oder etwas in der Art –, weil der Rat sie dazu gezwungen hatte.
Danach – noch immer verletzt und gekränkt von Menehems Verschwinden – war sie mit mir ins Purpurrosenhaus gezogen, das ebenfalls verlassen worden war. Sein Name stammte aus der Zeit, als Cris dort Rosen züchtete, die niemand außer
ihm selbst als blau bezeichnete. Sobald ich alt genug gewesen war, hatte ich Stunden damit verbracht, die Rosen wieder dazu zu bringen, dass sie den ganzen Sommer über blühten. Meine Hände waren immer noch vernarbt von ihren Dornen, aber ich wusste, warum sie sich so gut schützten.
Ein zweites Mal wandte ich mich ab und trottete den Hügel hinunter. In der Stadt würde ich den Rat um Zeit in der großen Bibliothek bitten. Es musste einen Grund dafür geben, dass ich geboren worden war, nachdem fünftausend Jahre lang immer dieselben Seelen wiedergeboren worden waren.
Der Vormittag schritt voran, aber die Kälte ließ kaum nach. Schneeverwehungen säumten die kopfsteingepflasterte Straße, und ich hinterließ Spuren in der weißen Schicht, die sich seit der Nacht neu gebildet hatte. Ab und zu raschelten Streifenhörnchen und Eichhörnchen in den vereisten Zweigen oder huschten die Tannen hinauf, aber meist war es still. Selbst der Elchbulle, der mit der Schnauze im Schnee wühlte, gab keinen Laut von sich. Man hätte meinen können, ich sei der einzige Mensch im Reich.
Ich hätte vor meinen Quindec fortgehen sollen, meinem fünfzehnten Geburtstag und – für normale Menschen – dem Tag, an dem man körperlich erwachsen ist. Normale Menschen verließen ihre Eltern, um diesen Geburtstag mit Freunden zu feiern, aber ich hatte keine Freunde, und ich hatte gedacht, dass ich länger brauchen würde, um die Fähigkeiten zu erlernen, die jeder andere seit Jahrtausenden beherrschte. Es geschah mir recht – warum hatte ich Li auch immer geglaubt, wenn sie mich als dumm bezeichnete?
Diese Chance würde sie nie wieder bekommen. Am Ende der Straße, die vom Haus wegführte, zog ich den Kompass hervor und schlug den Weg Richtung Norden ein.
Die vertrauten Bergwälder im Süden des Reiches waren ungefährlich;
Bären und andere große Säugetiere ließen mich in Ruhe, und ich sie ebenfalls. Ich hatte meine Jugend damit verbracht, Muscheln und Mineralien zu sammeln, die nach Jahrhunderten wieder an die Erdoberfläche gelangt waren. In den Büchern stand, dass der Endsee sich vor tausend Jahren in den Regenzeiten bis hierher nach Norden ausgedehnt hatte und dass man hier deswegen heute auf Schatzsuche gehen konnte. Der See wurde so genannt, weil er die südliche Grenze des Reiches bildete.
Ich machte keine Pause, sondern aß im Gehen einige der schrumpeligen Äpfel aus dem Keller und hinterließ eine Spur von Kerngehäusen für den glücklichen Finder. Als mein Hunger gestillt war, zog ich mir den Hemdkragen über die Nase und ließ meinen Atem über Lippen und Wangen streichen. Die Brust und den Hals gewärmt sang ich Unsinn über Freiheit und Natur. Meine Schritte hielten den Takt, und ein Adler stimmte mit seinen Rufen ein.
Ich hatte nie richtigen Musikunterricht gehabt, aber ich hatte einige Bücher darüber aus der Bibliothek unseres Hauses gestohlen und auch ein paarmal Aufnahmen von Dossam, dem meistgefeierten Musiker im Reich. Ich hatte mir seine – manchmal ihre – Lieder gut gemerkt, falls Li meinen Diebstahl entdeckte. Die Schläge war es wert gewesen.
Allmählich sank die trübe Sonne dem Horizont entgegen. Die verschneiten Gipfel zu meiner Rechten wurden bereits schwarz. Seltsam, denn ich ging nach Norden. Die Sonne hätte also links von mir untergehen müssen.
Vielleicht hatte sich die Straße um einen Hügel herumgewunden, und ich hatte es nicht bemerkt. Aber als ich meinen Rucksack auf dem Kopfsteinpflaster abstellte und auf eine Pappel kletterte, um mir etwas Übersicht zu verschaffen, bewahrheitete sich meine Vermutung nicht. Die Straße führte
keineswegs in einem Bogen zurück in die entgegengesetzte Richtung. Sondern sie zog sich, soweit ich es in dem Dämmerlicht erkennen konnte, wie eine Schneise geradlinig durch Fichten und Kiefern, direkt am Endsee vorbei.
Also hatte Li mich hereingelegt.
»Ich hasse dich!«, schrie ich, warf den Kompass auf den Boden und kniff die Augen fest zusammen, nicht
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