Das Meer der Zeit: Roman (German Edition)
zitternden Fingern öffnete ich die Lasche und holte das gefaltete Papier heraus. Es fühlte sich neu und steif an. Nur durch die Mitte verlief eine scharfe Knickfalte. »Hast du ihn nie aufgemacht?«, fragte ich.
»Nein, ich habe darauf gewartet, dass du es tust. Ach, schon geht es los.« Er schloss mich in die Arme. »Du bist ziemlich nah am Wasser gebaut.«
»Entschuldige«, flüsterte ich und nahm den Brief aus dem Umschlag. Ein kleinerer, an der linken Seite ausgefranster Zettel rutschte heraus.
»Ich habe dir eine überarbeitete Version geschickt. Mein ewiger Ruhm, wie du es ausdrückst, beruht auf einem ersten Entwurf.«
Ich hielt den Zettel hoch. »Übersee« stand in der Titelzeile. Darauf folgten vierzehn schlichte und anrührende Zeilen, deren Ende mir nun so klar war: »… in dieser dunklen Stunde/Erhält nur das Bild meinen Glauben in Übersee/Ihr Herz schlägt wie meines, trotzend der Ewigkeit.«
»Dein Gedicht«, sagte er leise.
Ich nickte, denn ich konnte darauf nichts erwidern. Dann wandte ich mich wieder dem Brief zu.
Er räusperte sich. »Er ist nicht lang. Ich hatte nicht viel Zeit.«
Nachdem ich den Brief und dann das Gedicht zweimal gelesen hatte, steckte ich beides zurück in den Umschlag.
»Freust du dich?«, fragte er leise.
Ich nickte und ließ mich von ihm in den Sand ziehen.
»Alles Gute zum Geburtstag.«
»Vor einem Jahr kannte ich dich noch gar nicht und ahnte nicht, dass es auf der Welt so viel Liebe gibt. Ist das nicht merkwürdig?«, sagte ich nach einer Weile. »Charlie und ein paar andere Analysten haben mit mir Geburtstag gefeiert. Meinen fünfundzwanzigsten. Eine große Sache also. Wir waren in einer Tex-Mex-Kneipe in Tribeca und haben Tequila getrunken.«
Julian schnaubte.
»So viele hatte ich nicht«, verteidigte ich mich. »Ich mache nicht oft einen drauf. Allerdings hatte ich am nächsten Tag einen Kater«, gab ich zu.
»Armer Liebling.«
»So war jedenfalls mein letzter Geburtstag. Und jetzt bin ich hier.«
»Bist du. Und ich fürchte, kein Tequila.«
»Nein, Gott sei Dank. Nur du. Danke, Julian, mein Liebling, für die wundervollsten Geburtstagsgeschenke auf der Welt.« Ich küsste ihn.
»Gern geschehen.«
»Weißt du, du bist wirklich ein ausgezeichneter Liebhaber und Ehemann.«
Er grinste. »Das ist schließlich meine Lebensaufgabe.«
Ich küsste ihn aufs Kinn. »Wenn wir wieder zu Hause sind, stehe ich früh auf und mache dir Pfannkuchen.«
»Hahaha, das möchte ich erst mal sehen. Autsch!«
Ich hatte ihn gerade gezwickt.
»Vielleicht nur sonntags«, verbesserte ich mich, gefolgt von einem Kitzeln. »Und Schaumbäder.«
»Schaumbäder? Ach … du meine Güte …«, stieß er, geschüttelt von Gelächter, hervor.
»Und Rückenmassagen. Mit dem lecker duftenden Kokosöl.«
»Schon … besser. Kate, hör auf … du kleiner Frechdachs …« Er wand sich hilflos.
Ich beugte mich vor. »Wer zuerst im Wasser ist«, raunte ich ihm ins Ohr.
Ich rannte los, dass der Sand in alle Richtungen spritzte. Vor mir erstreckten sich etwa hundert Meter sauberer weißer Sand. Die Lagune funkelte blau im strahlenden Sonnenschein.
Wie immer passte er genau den richtigen Zeitpunkt ab, schlang mir den linken Arm um die Taille und riss mich mit, als die ersten Wellen gerade gegen meine Schenkel schwappten. Das kristallklare Wasser schloss sich über uns, und Julians in der Sonne leuchtender Körper schmiegte sich an meinen, als unsere Köpfe wieder an die Oberfläche brachen.
Wir forderten die Götter heraus.
Über Beatriz Williams
Beatriz Williams hat an der Columbia University einen Abschluss in Wirtschaftswissenschaft gemacht. Ihre große Leidenschaft aber gilt dem Schreiben, dem sie so oft frönt, wie es ihre vier Kinder zulassen. »Das Meer der Zeit« ist ihr erster Roman.
Über dieses Buch
Eine junge Frau auf der Suche nach Glück und Erfolg. Ein geheimnisvoller Mann, der nicht aus dieser Zeit zu stammen scheint. Eine Liebe, die keine Zukunft haben kann.
Als die junge New Yorkerin Kate den attraktiven und reichen Julian kennenlernt, glaubt sie zu träumen, denn er ist fast zu perfekt, um wahr zu sein. Da erhält sie eines Tages mit der Post ein Buch, in dem die Geschichte eines gefeierten britischen Poeten erzählt wird, der im Ersten Weltkrieg gefallen ist. Das Bild auf der Buchrückseite zeigt – IHREN Julian!
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011
unter dem Titel »Overseas« bei Putnam, New York.
eBook-Ausgabe
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